Karl Heinz Witte
St.-Anna-Platz 1
80538 München
Tel. 089/29161942
Aus dem
Irrgarten des alltäglichen Machtstrebens:
die Neurose
I. Das gottgleiche Subjekt
Meine Absicht ist es, Wesenszüge
des neurotischen und des alltäglichen Machtstrebens zu vergleichen. Meine These ist: Das
Streben, welches die Neurose beherrscht, und die Zielsetzung, die das neuzeitliche
wissenschaftliche Denken kennzeichnet, sind identisch. Ich enthalte mich bei der
Kennzeichnung des neuzeitlichen Denkens der theoretischen Erörterung. Ich will vielmehr eingangs veranschaulichen, wie der Mann,
der das Prinzip der neuzeitlichen Wissenschaft gültig formuliert hat, René Descartes,
persönlich an seine Aufgabe herangeht:
1. "Umsturz der Meinungen"
"Schon vor langer Zeit habe
ich bemerkt, daß ich viel Falsches in meinen jungen Jahren als wahr zugelassen habe. So
ist, was ich darauf gebaut habe, unsicher und schwankend. Schon oft habe ich mir
vorgenommen, einmal im Leben müßte alles von Grund auf umgestürzt und von den ersten
Fundamenten an neu aufgebaut werden. Da mir das Werk des Umsturzes meiner Meinungen so
ungeheuer erschien, habe ich immer gezögert. Es schien mir noch nicht an der Zeit, ich
schien mir noch nicht reif zu sein für eine so ungeheure Aufgabe" (Descartes
1956).
Hier spricht ein Mann eine
Grunderfahrung des menschlichen Lebens aus: Mitten auf unserem Lebensweg, wieder und
wieder faßt uns der Zweifel an: Gehe ich vielleicht in die Irre? Wir bilden in unserer
Jugend Annahmen, Meinungen aus, und auf deren Grund richten wir uns ein. Wir errichten
unseren Lebensplan wie ein Gebäude, in dem Familie, Beruf, gesellschaftliche und
politische Bezüge jeweils ihren Raum und Ort haben.
Der Mann spricht von einer Krise.
Er erfährt, daß das Gebäude seines erwachsenen, beruflich erfolgreichen, sozial
integrierten Lebens unsicher ist. Nicht weil ihm dies und das an gesellschaftlicher
Anpassung oder privater Erfüllung fehlt, sondern weil die Fundamente seines
Lebensgebäudes selbst schwanken.
2. Sich selbst verändern
Eine heikle Situation. Er sucht
einen Weg zur Selbstbesinnung, zur Revision seiner Überzeugungen. Er nennt, was er sich
vornimmt, den Umsturz seiner Meinungen. In einer solchen Situation beginnt mancher heute
eine Psychotherapie. Andere wechseln den Beruf, die politische Richtung oder wenden sich
alternativen Lebensformen zu. Wir wollen uns ändern, sei es durch Psychotherapie oder
sonstwie.
Wie steht einer, der sich ändern
will, zu sich selbst? Er tritt sich gegenüber. Er will, was er schon aufgebaut hat, von
neuem und besser errichten. Er sieht sich in seiner Lebensgeschichte. Was heißt das? Wenn
ich zurückblicke und meine vergangenen Taten und Überzeugungen als falsch oder richtig
beurteile, mit dem Gedanken, ich könnte das Falsche von mir abtrennen und das Richtige
von nun an an die Stelle des Falschen setzen, so nehme ich einzelne Stationen,
Entscheidungen, Ereignisse "objektiv", d.h. losgelöst von meinem je-weiligen
Einssein. Und sollten sie mich noch beeinflussen, so muß das ein Ende haben. Oder kann
ich etwa stolz darauf sein? Was davon kann man rückgängig machen? Was kann man
wiederbeleben, um es zu besitzen? Wieviel Spielraum bleibt mir noch? Was in meinem Leben
ist starr, was flexibel, was ist der Einsicht und Veränderung überhaupt zugänglich, und
was ist von mir bewußt gestaltbar?
Wenn ich so frage, liegt mein
Leben in einem geistigen Raum vor mir. In diesem sind die Gedanken, Lebenstaten, Meinungen
aufgehoben. Sie stehen in der Welt als Werke, als Gebilde, als Zeug, als Überzeugung, als
Tat oder Versäumnis, zum Gebrauch und Genuß oder als Manko und Schandmal. Sie sind in
die Vergangenheit eingeräumt wie in eine Rumpelkammer meines Gedächtnisses, wo sie
hervorgeholt werden, Kulissen, Requisiten, Wegmarken. In dieser Rumpelkammer meiner
Vergangenheit bewege ich mich: ein Punkt in der Zeitstrecke, ein wanderndes Irrlicht, eine
Monade, die in Beziehungen steht, zu anderen und zu mir selbst.
Aber was heißt das, Beziehung zu
anderen oder zu mir selbst? Es ist, wenn wir der Alltagsmeinung folgen, eine Beziehung zu
den Gegenständen meiner Erfahrung, zu den Vorstellungsbildern meiner selbst, die mich
repräsentieren, oder zu den vorgestellten Teilobjekten, welche den jeweiligen Mitmenschen
repräsentieren. Wir sind bei den nebelhaften und zungenbrecherischen "Selbst-"
bzw. "Objektrepräsentanzen" der neueren Psychoanalyse, die im Frühstadium
offenbar verschmolzen sind und dann "Selbst-Objekt-Repräsentanzen" heißen
(Überblick z.B. bei Blanck 1978). Wir bemerken: Diese Sprachungetüme entspringen
keineswegs einer Sprachschlamperei oder einem Manierismus, sondern ent-sprechen exakt dem
maßgebenden neuzeitlichen Denken.
3. Descartes oder das gottähnliche Ich
René Descartes,
der hier als Prototyp dessen gewählt wurde, der die Revision seines Lebensgebäudes
aufnehmen will, hat uns eines der Grundbücher der Neuzeit hinterlassen: 'Meditationes de
prima philosophia' (Descartes 1956). In ihm wurde philosophisch begriffen, was in
seiner Lebenszeit sichtbar hervortreten konnte und dann die Generationen nach ihm bis
heute prägte: eine bestimmte Stellung des Menschen zur Welt und zu sich selbst. Descartes
stellt sich seiner Erfahrung. Er nimmt sich in seiner Erfahrung der Ungewißheit, des
Schwankens und Zweifelns ernst, und, so möchte man sagen, er übernimmt die
Verantwortung.
"Ich dachte, eine spätere
Zeit würde größere Reife und Ruhe bringen, doch könnte ich, meine ich nun, an meiner
Aufgabe und an mir selbst schuldig werden, wenn ich noch weiter zuwarten und die mir
verbliebene Zeit vertun würde. So habe ich mich also allein zurückgezogen, habe für
hinreichende Muße, Feder, Tinte und Papier gesorgt, so werde ich denn die Zeit nützen,
ans Werk gehen, den Umsturz meiner Meinungen, so wie ich es am besten kann, in Angriff
nehmen" (Descartes 1956).
Hier nimmt sich einer wie eine
technische Apparatur in die Mache. Wie das
Reparieren durchgelaufener Schuhsohlen, wie die Generalüberholung eines Pkw nimmt hier
einer die Reparatur, die Neukonstruktion seines ganzen Lebens in Angriff.
Die Einrichtung unseres Lebens
erscheint wie eine Leistung, vielleicht als eine schöpferisch-künstlerische Leistung.
Ich bin mir selbst, meinem Leib, meinen Gefühlen, meinen Ideen und Überzeugungen, meinem
Lebensweg, meinem Beruf, meinen Lebenspartnern gegenüber ein Techniker, ein Werkmann. Die
Wörter "Bildung und Erziehung" lassen diesen technischen Sinn noch mitklingen.
Heute benützt man lieber die begrifflichen Windeier "Konditionierung, Sozialisation
und Personalisation". Diese Wörter verschleiern zwar die Rolle des Machers. Diese
wird anonymen Instanzen zugeschrieben. Die neue Begriffsbildung stellt aber um so
deutlicher die Formung und Formbarkeit der Menschenmasse in den Blick.
Zum Werk des Werkmanns gehört
eine Sache, die hergestellt wird: eine angesehene Persönlichkeit. Zum Werk gehört der
Lohn, der dafür bezahlt wird: man ist ja eine gut ausgebildete Fachkraft. Dazu gehört
auch die Befriedigung über den Wert: der Eltern- oder Lehrerstolz über die
"gelungenen" Kinder. Und darin klingt auch die Machtlust mit: "Hier sitz'
ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei: zu leiden, zu
weinen, zu genießen und zu freuen sich - und dein (nl. Zeus) nicht zu achten, wie
ich." Goethes 'Prometheus', den ich da zitiere, holt ja nur in die Macht des
Menschen, was ursprünglich Gottes Werk gewesen sein soll: "Lasset uns den Menschen
machen nach unserm Bild und Gleichnis" (Gen 1,26). "Gott sah alles an, was er
gemacht hatte: Es war sehr gut" (Gen 1,32). Dann aber "reute es" ihn, und
er ließ die Sintflut kommen (Gen 6,6-8); denn das Geschöpf erwies sich als mißraten wie
so oft die Kinder, wenn sie dem pädagogischen Narzißmus nicht mehr genugtun.
Das Denkmuster, nach dem Descartes
und überhaupt der neuzeitliche Mensch sich selbst sieht, ist die Vor-Stellung, das
Vor-sich-Hinstellen und Herstellen. Es spiegelt sich darin das Bild des Schöpfergottes,
der nach seiner Idee den Menschen formt. Das Ich in seiner Gottähnlichkeit bildet,
verändert, tadelt und bewundert den Menschen aus Fleisch und Blut, der ich selber bin. Es
gibt auch Wissenschaften vom Menschen, die ihn so objektiv, als Sache nehmen, ihm
Selbstsicherheit, Lebenserfolg, Symptomfreiheit auf wissenschaftlich gesichertem Wege
versprechen. Manche dieser Psychotechniken nennen sich auch Psychotherapie.
Aber welcher Weg ist denn
zweifelsfrei sicher? Ein einzelner Mensch, der sich dasselbe vornehmen würde, was ihm
Wissenschaft, Technik und Versicherungswesen als möglich und erstrebenswert vorgaukeln,
hätte eine schlimme Zwangsneurose, wenn nicht eine Psychose.
II. Die Neurosenlehre
1. Adlers Kritik an Freud
Hier soll für die theoretisch
Interessierten nur kurz und schlagwortartig Adlers Position im Verhältnis zu Freuds
Psychoanalyse skizziert werden. In den Vorträgen (Adler 1911/1973), die zu Adlers
Trennung von von Freud geführt haben, spitzt er seine Kritik auf den folgenden
Punkt zu: Er wolle nicht nach dem Wesen und Wirken der Verdrängung fragen, das sei durch Freuds
Arbeit bekannt. Er frage: Aus welchem Grunde verdrängen wir unsere Triebregungen, und
gibt es nicht außer der Verdrängung andere Ursachen und Wege der Neurose? Seine Antwort:
Der Grund für die Verdrängung und allgemein für die Entwicklung neurotischer Symptome
liege in den Ansprüchen des "irritierten" Ichs auf Sicherheit, Geltung und
Macht. Freuds Kommentar dazu war stets, Adler habe den Anstoß zu einer
Untersuchung der Ichtriebe gegeben. Dazu sei es aber noch nicht an der Zeit. Zuvor müsse
die Libido studiert werden, deren beherrschende Rolle im Aufbau der Psyche von Adler
verleugnet würde (Freud 1914). Erst nach dem Weggang Adlers liefert Freud
drei neue und wesentliche Konzepte zur Analyse des Ichs (Freud 1975).
Ich stelle die begrifflichen
Konzepte und Stationen der Theorie kurz nebeneinander: Freud hat mit Breuer
zusammen die Wirkung der sexuellen Traumata entdeckt. Adler betont demgegenüber
umfassender die frühkindliche Mangellage. Freud hat dann die Wirkung der
unbewußten Phantasien und der Triebdynamik studiert. Adler betonte demgegenüber
die beherrschende Rolle des fiktiven Persönlichkeitsideals. Mit der Einführung des
Narzißmus, insbesondere mit dem Konzept des Ichideals trug Freud, wie er wußte
(s. Freud / Andreas-Salomé 1966), dieser Position Adlers Rechnung. Als
Rückschritt ist in Adlers Sicht die Rückbindung des Ichideals an die Libido zu
betrachten. Hier ist die moderne Narzißmusforschung zweifellos weitergekommen. Die
Konflikttheorie Freuds (Es-Ich-Überich) lenkte die Aufmerksamkeit noch stärker
auf die Abwehr- oder Sicherungsvorgänge in der Psyche, die Adler seit seiner
Trennung von Freud postuliert hatte.
Alles in allem scheint es so, als
ob die Psychoanalyse die voreiligen Hypothesen Adlers aufgegriffen und gründlicher
fundiert hätte. Für manche Bereiche stimmt das, aber nicht für den Grundansatz der
Individualpsychologie. Dieser liegt in der Lehre von der Finalität und der
Fiktionalität. Man kann die gemeinsame Position vielleicht so bestimmen: Die Neurose ist
nicht das Trauma und nicht der Mangel, sie ist auch nicht die Triebfixierung, sondern eine
krankhafte Abwehrorganisation bzw. eine Sicherungstendenz. Bei gravierenden frühen
Mangellagen wird die gesamte Persönlichkeitsbildung von der Abwehrorganisation
durchherrscht. Die Persönlichkeit ist dann sozusagen nur Abwehr. Adler sprach vom
"Nervösen Charakter", heute spricht man von "Strukturdefekten" oder
von einer "pathologischen Persönlichkeitsorganisation" (Kernberg 1978 u.
1981).
2. Adlers Neurosenlehre
Die Hauptthese Adlers
lautet: Die Neurose liegt in einer fiktiven persönlichen Zielsetzung, in einem irrealen
Persönlichkeitsideal ("Ichideal", "Größenselbst"), das der Abwehr
fundamentaler Minderwertigkeitsgefühle dient. Wie sieht so ein fiktives
Persönlichkeitsideal aus, und ist es wirklich so neurotisierend?
Ist es den Eltern etwa nicht zu
wünschen, daß ihr Kind gesund, geschickt, intelligent ist. Es soll aber auch tierlieb
sein, Freunde haben, sich allein sinnvoll beschäftigen können, kleine Aufgaben im Hause
wahrnehmen und in der Schule vorankommen. Unser Kind hat ein heiteres Gemüt, ist klug,
doch nicht altklug, ganz ungezwungen und hat doch gute Manieren. Auch die kreativen
Kräfte werden nicht vernachlässigt; dafür tanzt es, malt und spielt ein Instrument.
Damit es Durchsetzungsvermögen lernt, geht es in einen Sportverein oder in einen
Karateclub.
Aber: Was spielt uns denn nun
eigentlich jenen Streich, der uns scheitern läßt, wenn wir diese Ziele bei unseren
Kindern oder bei uns selbst erreichen wollen? Hier ein paar gängige Mutmaßungen: Ist es
die chaotische, ungezähmte, primitive Natur? Sind es die mißglückten
Sublimationsbemühungen? Ist es die mangelnde pädagogische Förderung? Fehlt die
hinreichend gute Bemutterung, die optimale Frustration, das bedingungslose Angenommensein
oder die strenge Hand des Vaters?
Auf diese Fragen bietet Adler
keine Antwort, die dazu dienen könnte, die scheiternden Erziehungs- und
Selbsterziehungsbemühungen zu verbessern. Zunächst einmal bietet er nur eine Erklärung
des Scheiterns selbst. Das Feld, in dem diese Erklärung zu suchen ist, liegt allerdings
ganz woanders als in den Fragen angedeutet. Die Wurzel des Übels liegt für Adler
nicht in dem, was die Erreichung des Zieles verhindert, sondern in dem Ziel selbst und in
der Vorstellung von dem, was helfen könnte.
Mit anderen Worten: Wir müssen
scheitern, wenn wir daran festhalten, unser Erziehungs- und Persönlichkeitsziel erreichen
zu wollen. Dieses Streben ist aussichtslos, führt, wenn es unbeirrt festgehalten wird, in
die Verzweiflung, zum Versagen im sozialen und privaten Lebensfeld, letztlich zur
Selbstzerstörung. Damit sind wir im Kern von Adlers Neurosenlehre. Er faßt diesen
Gedanken in folgende Begriffe: Das Kind, dem die ursprünglichen körperlichen und
seelischen Bedürfnisse nicht erfüllt werden, sucht einen Ausgleich dieser
Mangelerfahrung durch "psychisches Können" (Adler 1912).
Zweifellos können wir ja das eine oder andere, sogar auf den Mond fliegen können wir.
Das ist nicht gemeint. Die Anstrengung des "psychischen Könnens", die für die
Neurose kennzeichnend ist, bezieht sich auf die Wertsteigerung des Ichs. Ich will etwas
können, um nicht wertlos zu sein. Nun ist die entscheidende Frage: Wessen kann ich
grundsätzlich nie sicher oder mächtig sein? Was innerhalb des "Psychischen"
unterliegt nicht meinem Streben? Was kann seinem Wesen nach nie zur Wertsteigerung
beitragen? Mit anderen Worten: Wo muß jedes Könnenwollen scheitern?
Eine Anstrengung in einem
Bereich, in dem das Könnenwollen nicht weiterhilft, ist zum Scheitern verurteilt. Aber: Auswegloses
Streben als Versuch der Selbstheilung von fundamentalen Ängsten und
Wertlosigkeitsempfindungen: das ist die innere Dynamik der Neurose.
Das Prinzip der psychischen
Kompensation konstitutioneller und sozial-emotionaler Mängel trägt bei Adler
verschiedene Namen: Aggressionstrieb, Männlicher Protest, Wille zur Macht, Machtstreben,
Gottähnlichkeitsstreben, Überlegenheitsstreben, Überwindungsstreben,
Vollkommenheitsstreben. Diese verschiedenen Bezeichnungen deuten auf unterschiedliche
Färbungen oder Erscheinungsweisen hin. Das ursprünglichen Phänomen, in dem sie alle
wurzeln, ist der Wille zur Macht. Im allgemeinen denkt man beim Wort Macht an den Einfluß
auf den Willen anderer, an Rüstungspotential und Wirtschaftsmacht oder an narzißtische
Größen- und Allmachtsphantasien. Adler versteht mit Nietzsche (hrsg. v. Schlechta,
Bd. 3, 673ff.) Macht als unbedingtes und unwidersprochenes Befehlen, also als absolutes
Herrsein, vor allem über sich selbst. Wille zur Macht ist demnach Herrseinwollen und
Könnenwollen.
Ich will können, das ist das
formale Prinzip der Selbst- und Weltgestaltung. Aber was will ich denn inhaltlich können?
Worauf zielt der Wille zur Macht? Auf Geltung, die bestimmt ist durch Werte. Diese Werte
als Richtschnur meines Strebens sind zusammengefaßt im Persönlichkeitsideal, das mir
durch die Wertqualitäten meiner Umgebung, der familiären Identifikationsfiguren und
darüber hinaus durch die kulturellen Wertsysteme vorgelebt wird.
Die Strebungen und Ideale, die im
"Überich" wirken, nötigen das Individuum zur Veränderung der Realität, auch
der inneren. Alle "Abwehrmechanismen" und neurotischen Konfliktlösungsmodi sind
von diesem Zwang zur Wertung verursacht. Daraus ergibt sich als Konsequenz, daß die
Analyse der "Überichstrukturen" bzw. der "narzißtischen"
Werttendenzen die Untersuchung der "Triebschicksale" selbstverständlich nicht
unnötig macht, sondern voraussetzt und sie weiterführt. Es sei hier auch noch angemerkt,
daß es sich nicht um kognitive, sondern um "unbewußte"
Überich-Konstellationen und Zielsetzungen handelt. Freilich verzerren diese Begriffe den
Blick auf die Sache und stehen einer gründlichen Phänomenanalyse eher im Wege.
III. Das alltägliche Machtstreben und die Neurose
1. Narzißmus
Wenn ich im folgenden von Neurose
spreche, beziehe ich mich vor allem auf deren "narzißtische" Dimensionen. Das
entscheidende Kennzeichen in der Psychodynamik des Narzißmus ist in
individualpsychologischer Sicht, daß der Wille zur Macht sich derjenigen Dimensionen des
Menschseins zu bemächtigen versucht, die jedem Könnenwollen grundsätzlich verschlossen
sind.
Wie zeigt sich diese
Machtkomponente in der Entstehung und Entfaltung der Neurose?
Sie setzt in der Phase erster,
keimhafter Ichbildung ein. Eine hinlängliche perinatale und symbiotische Entwicklung, wie
sie z.B. von Mahler (1978) geschildert worden ist, muß vorausgesetzt werden.
Schäden und spezifische Mängel in diesen Entwicklungsabschnitten prägen und färben die
Persönlichkeitsentwicklung erheblich, können auch zu gravierenden
Persönlichkeitsstörungen führen; aber das spezifisch Neurotische, dem wir uns in der
analytischen Psychotherapie widmen, wird erst mit einer vom Ich zentral gesteuerten
Sicherungs- oder Kompensationsorganisation begründet. Die moderne Psychoanalyse, sei sie
Ich- bzw. Selbstpsychologie (Blanck 1978; Kohut 1974) oder Theorie der
primären Objektbeziehungen (Kernberg 1981), beschreibt die sich in den Phasen der
Ichorganisation (Differenzierung, Übung, Wiederannäherung) ausbildenden Strukturen, die
Selbstrepräsentanzen und Objektrepräsentanzen samt den dazugehörigen
Introjektbildungen. Sie geht dabei von einer nicht exakt bestimmten gesunden Norm aus, der
gegenüber die Defekte, Strukturmängel und Verformungen als neurotisch oder
borderline-typisch abstechen (Zum Überblick: Blanck 1978; Mentzos 1984).
Das ist alles sehr hilfreich; aber es wird von unserer individualpsychologischen Sicht
dabei eines übersehen, was uns wesentlich ist.]
Die für die Entstehung der
Neurose wie allgemein für die Charakterbildung entscheidende Phase ist die
"Ichfindung" (Adler 1912). In dieser Phase wird ein ganz besonderer Bezug
des Individuums zur Welt gestiftet: mit Adlers Worten der finale und fiktionale
Bezug. Was heißt das? Es wird ein Bild davon entworfen, wie die Persönlichkeit sein
sollte. Darin ist enthalten: es handelt sich um eine bloße Vorstellung, nicht um
Wahrnehmung; diese Vorstellung wird zum Ziel der Entwicklung. Aus dem Gesichtskreis des
Willens zur Macht läßt sich dasselbe auch so formulieren: In diesem Lebensabschnitt
bilden sich zwei Grundtätigkeiten des Ichs aus: das Werten und das Könnenwollen
(das natürlich auch ein Könnensollen ist).
2. Leistungsstreben als Könnenwollen
Eine Kindheitserinnerung:
"Es ist Ostern. Ich eile unter der gespannten Aufmerksamkeit meiner Eltern in der
Wohnung umher und entdecke sogar die besonders listig versteckten Ostereier. Es herrscht
eine Stimmung der Begeisterung, wie schlau und einfallsreich ich es anstellen kann."
Das klingt wie eine schöne, unbelastete, gewiß nicht neurotische Erinnerung. Wünschen
wir unsern Kindern nicht solche Erfolgserlebnisse und die dazu gehörige Bestätigung oder
sogar die gebührende Bewunderung? Die halbe Erziehung und beinahe die ganze
Schulpädagogik sind auf diesem Prinzip aufgebaut, und eine gewisse Lerntheorie verbraucht
Millionen, um solche Vorgänge zu erforschen.
Worin liegt das Neurotische? Hier
wird ein fiktives (narzißtisches) Selbstwertgefühl erzeugt, das sich auf drei falsche
Annahmen stützt:
1. wird das Wesen des
schöpferischen Findens falsch eingeschätzt; dieses ist nämlich ein Ereignis und keine
Könnensleistung.
2. wird die Aufmerksamkeit
auf den Wert einer Handlung gelenkt. (Das Suchen und Finden bringt etwas: jetzt umittelbar
Bewunderung, später gute Noten, ein sicheres Einkommen, früher einen Platz im Himmel).
Was ich tue, mag in sich so sinn- und wertlos sein wie ein Fetzen Papier; aber ich kann
mir etwas dafür kaufen. Nur auf Grund eines solchen Mechanismus ist es möglich, daß
beispielsweise ein Manager der Kriegsmaschinerie stolz auf seine Leistung ist.
3. Das so begründete
Selbstwertgefühl stützt sich nicht auf eine Selbstwahrnehmung, es ist kein Gefühl für
mich selbst. Mein Selbstwert liegt vielmehr in dem Wert, den ich oder mein Tun für die
narzißtischen Bedürfnisse der Eltern haben: daß die sich über mich freuen können. Nur
so ist es denkbar, daß ein braver Bürger als Folterknecht über seine Pflichterfüllung
Genugtuung empfinden kann. Diese Folterknechte gibt es (in milderen Varianten) bekanntlich
in allen Institutionen, die Menschen behandeln.
Was geschieht, wenn das
schöpferische Finden als Beweis des Könnens angesehen wird? Eine solche
Fehleinschätzung muß zu Leistungsstörungen führen. Manches Schulkind wird bemerken,
daß sein Könnenwollen bei der Lösung von Mathematikaufgaben scheitert. Wenn es gesund
reagiert, wird es sagen: "Ich mag nicht mehr." Man nennt es dann
Leistungsverweigerer. Allerdings weiß das arme Kind nicht, warum es scheitern muß. Es
meint, daß es sich zu wenig anstrengt. Das sagen auch die Pädagogen. Dieser Glaube
führt allerdings zu nichts anderem als zu Schuldgefühlen. Doch die nimmt man noch lieber
in Kauf als den Verzicht auf die Könnensillusion, auf die besonders die Pädagogen
angewiesen sind. Ein Ausweg aus der Sackgasse ist: Das Kind ist einfach zu dumm. Das kann
ja sein. Doch das Problem ist damit nicht vom Tisch: Wie kommt eigentlich ein
intelligentes Kind zu schöpferischen Problemlösungen? Durch Anstrengung und Entfaltung
seines Könnens? Manche glauben es, kriegen mächtiges Lob dafür und gute Noten. Weit
verbreitet ist allerdings bei solchen erfolgreichen und prämiierten Schülern das
Gefühl: im Grunde ist alles Schwindel. Und damit haben sie recht.
3. Grundphänomene, um die sich die Neurose sorgt
Hinter allen neurotischen
Ängsten und Problemen stehen menschliche Grundängste und ursprüngliche
Befindlichkeiten. Die sogenannte Neurose ist nur ein Versuch, vielleicht ein
allgegenwärtiger, wahrscheinlich ein stets scheiternder Versuch, das ungesicherte
Menschsein selbst in den Griff zu bekommen. Ich zähle einige Grundphänomene auf;
bezeichne sie aber nicht begrifflich, sondern versuche nur, sie umgangsprachlich zu
umschreiben: 1. das individuelle Leben selbst im umfassendsten Sinne; 2. Halt,
Geborgenheit, Urvertrauen; 3. Stimmung, Selbsterleben, Selbstwertgefühl;
4. Wirken, Tätigsein, Leisten; 5. Gemeinschaft, Identität, Austausch Verstehen
und Verstandenwerden (s. a. Hellgardt 1982). Die Störung, die in der oben zitierten
Kindheitserinnerung aufscheint, liegt in dem relativ hoch differenzierten Bereich des
Leistens, in der Intention auf Erfolg und Ansehen. Darunter liegen noch andere
Belastungen. Die elementaren Problem- und Entwicklungsfelder stehen sämtlich in Bezug
zueinander; ähnliche Lebensstilmuster bzw. Sicherungs- oder Bewältigungsstrukturen
kehren wieder. Wie Kohut (1974) es ausdrückt: Sie sind wie die Teile eines
Teleskops ineinander geschoben. Mir kommt es hier auf die Weise an, in der die
Herausforderungen jedes Problembereichs uns ansprechen: Wie sichern wir das Leben? Wie
finden wir Geborgenheit? Können wir unser Selbsterleben, unser Selbstwertgefühl positiv
stabilisieren?
Alle diese Grundbezüge des
Menschen sind dem Könnenwollen nicht verfügbar. Sie sind aber zugleich nicht dem
Einfluß des Ichs völlig entzogen. Sie erschließen sich nur, wenn wir in
unvoreingenommener Aufmerksamkeit, in wacher Bereitschaft, in "zuvorkommender
Zurückhaltung" (Heidegger 1959, 32f.), in "zärtlichem" (Padrutt
1984) Mitschwingen offen sind für das, was uns geschieht, was sich ereignet. Dadurch
entsteht jene Spannung, die das gehobene Lebensgefühl durchstimmt und die die Freude am
Dasein, die Einstimmung ins Ganze, das Gelingen eines Werkes, die Gemeinschaft im
Austausch möglich macht. Alle diese Erfahrungen sind jedoch stets bedroht vom Entzug, von
verschiedenen Abtönungen bis ins Leere oder Dissonante hinein. Die Wirkweise, die
Bedingungen und Hemmnisse solcher Grunderfahrungen sind unserem kollektiven
Alltagsbewußtsein wie auch dem forschenden Zugriff der Humanwissenschaften weitgehend
unbekannt. Ja sowohl das alltägliche wie das wissenschaftliche Forschen kehren sich sogar
ausdrücklich von diesen Grunderfahrungen ab. Und damit geschieht im kollektiven
Bewußtsein dasselbe, was auch die Neurose des Individuums begründet. Wir sehen ab vom
Ereignishaften des Seins und kehren uns den machbaren Machenschaften und den Beweisen
unseres Könnens zu.
4. Scheitern des Liebesstrebens
Ein anderes Beispiel: "Als
ich zur Welt kam, fing der Streit meiner Mutter mit meinem Vater gerade an. Meine Mutter
sagte, sie hätte es damals nur ausgehalten, weil ich so entzückend war. Ich hätte immer
gelacht. Ich war lustig, habe schon im Krabbelalter mit meiner gleichaltrigen Kusine
gespielt. Ich habe früh gesprochen, konnte so witzige Bemerkungen machen, daß alle
darüber gelacht haben. Dann, als ich in die Schule kam, hat alles aufgehört. Ich wurde
verschlossen, traurig und hatte keine Freundin. In einem Brief hat meine Mutter
geschrieben: Die Lösung deiner Probleme ist ganz einfach: sich mehr um die anderen
kümmern als um die eigenen Sorgen, die Schwierigkeiten mit Humor nehmen, sich an den
kleinen Dingen des Lebens freuen, sich manchmal schön anziehen, ausgehen, tanzen, mit
anderen Ausflüge machen." Zweifellos schlägt die Mutter hier wertvolle
Lebenseinstellungen vor, allerdings ist es genau das, was die Tochter gerade nicht kann.
Dabei ist sie doch beherrscht davon, genau das können zu wollen.
Sie schildert ihre Sehnsucht: Sie
ist erfüllt von der Vorstellung eines Sonnenuntergangs. Sie sieht sich auf einer
Sanddüne sitzen, einen Freund bei ihr, der sie nur leicht mit den Fingerspitzen berührt,
dann lange mit ihr gemeinsam in die Weite schaut, nichts sagt, und doch empfindet, was sie
selbst nicht aussprechen kann. Er erhebt sich und springt wie im Flug auf, breitet die
Arme aus, überschlägt sich im Sprung und fängt sich kugelnd am Fuß der Sanddüne. Es
ist ein stummer Schrei des Entzückens in der Weite des Sandstrands vor dem Meer.
Spricht sich hier eine tiefe
Sehnsucht aus, oder ist es der Prospekt eines Mittelmeer-Ferienclubs? Ich stelle diese
Frage ohne jede Ironie. Ich möchte die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß hier zwei
Grundeinstellungen haarscharf nebeneinander liegen: Die ereignishafte Einstimmung in ein
Sein voll Freude und Fülle liegt unmittelbar neben einer im Bild vorgestellten, dingfest
gemachten käuflichen Glücksidylle. Die oben zitierten Erwartungen der Mutter, nach denen
die Tochter zu leben versucht, selbst wenn sie sich dagegen wehrt, zielen auf ein solches
hochwertiges, erstrebenswertes Erleben hin, das in ein fiktives Persönlichkeitsideal
mündet: Wenn ich so wäre, könnte ich lieben und geliebt werden.
Sie berichtet vom Ende ihrer
Verliebtheit: "Als wir nebeneinander saßen, war er mir fremd. Ich suchte nach einem
Wort, ich sah immer nur mich selbst in meiner Unförmigkeit. Ich war getrennt von ihm und
mir, ausgesperrt durch eine Empfindung der Leere, durch ein Nichts, was zwischen uns trat
und mir sagte: So nicht, Renate. Es gibt nichts, was ich tun oder sagen könnte. In mir
ist kein Gefühl mehr. Keine Freude, keine Liebe, keine Neugier, nichts als das steife,
brüchig-wortlose Nebendran-Sitzen und Warten, daß ich was sagen kann."
5. Werten oder Wahrnehmen?
Die hier mitgeteilte Erfahrung
der Leere kommt aus einer Ohnmacht, genauer: aus einem Scheitern des Strebens. Die Liebe
wie auch das Ergriffen- und Erfülltsein in einem glücklichen Augenblick tun sich uns
auf, wenn wir dafür offen sind. Solche Erfahrungen machen, bewahren, erzielen oder gar
durch Erziehung ermöglichen zu wollen, ist so absurd wie das Unternehmen der
Schildbürger, die das Sonnenlicht mit Säcken in ihr fensterloses Rathaus schleppen
wollten. Nun machen die narzißtischen Kinder und überhaupt wir hilflosen Neurotiker das
ja nicht aus böser Absicht. Wir sind nur einer kollektiven Einstellung verfallen, die uns
glauben macht, wir seien unseres Glückes Schmiede, wir würden geliebt, wenn wir
liebenswert sind, wir wären erfolgreich, wenn wir uns nur richtig anstellen und
anstrengen würden usw. Besonders schwer zu durchschauen sind solche Irrmeinungen deshalb,
weil wir ja tatsächlich im Wirtschafts- und Berufsleben, in Politik und Nachbarschaft mit
unsern Statussymbolen und dem Potenz- und Imponierritual mächtig Eindruck machen können.
Man kann auf den Mond fliegen und ein ganzes Volk manipulieren. Aber bei all dem, worum es
den Ratsuchenden in einer Psychotherapie - unterhalb der Symptomebene - geht, gibt es kein
Knowhow und ist nichts zu manipulieren.
Ich will nochmals auf das Problem
des Narzißmus zurückkommen. Als seine Entstehungsbedingung werden z. B. genannt:
mangelnde Spiegelung, Enttäuschung über ein idealisiertes Selbstobjekt, frühe
Kränkungen, Verzärtelung. Ich glaube, daß das alles zum Nährboden des Narzißmus
gehört, aber nicht den Ausschlag gibt. Nach meiner Ansicht entsteht die Neurose, wenn die
Zuwendung der Eltern, insbesondere der Mutter, zu den Kindern erfüllt ist von Wertschätzung
und Bewunderung des Könnens. Kinder wollen nicht wertvoll oder bewundert sein,
sondern wahrgenommen werden. Sie wollen nicht anerkannt, sondern erkannt werden. Hier gilt
es allerdings genau hinzuschauen: Nicht schlechthin jedes Wertempfinden und nicht das
Könnenwollen überhaupt kritisiere ich, sondern jene Wertschätzung und
Könnenserwartung, die sich auf das Sein des Menschen selbst beziehen, die das
Selbstwertgefühl des Kindes und Erwachsenen begründen sollen.
Ich will den Unterschied an einem
bekannten Konzept der Narzißmusforschung verdeutlichen: In der psychoanalytischen
Literatur über frühkindliche Entwicklung wird der Mechanismus der Spaltung (Rohde-Dachser
1979) beschrieben. Vereinfacht gesagt: Die Menschen mit einer sogenannten narzißtischen
oder Borderline-Persönlichkeitsstörung können es nicht aushalten, daß die Mutter ihnen
gute und böse Seiten zeigt und daß sie selbst gute und böse Eigenschaften haben. Sie
spalten jeweils die gute oder die böse Seite in der Wahrnehmung ab und sehen sich oder
die Bezugsperson entweder als ganz gut oder als ganz böse. Diese Einschätzungen können
natürlich jäh ins Gegenteil umschlagen. Hier wird eine Spaltung beschrieben, die
innerhalb des Wertsystems selbst liegt. Eine Spaltung zwischen Gut und Böse ist eine
Aufspaltung des Wertens. Die gibt es. Doch meiner Meinung nach ist diese Spaltung
1. allgegenwärtig und für unsere Kultur bestimmend; sie ist nicht beschränkt auf
die frühen Persönlichkeitsstörungen, 2. herrscht diese Spaltung nicht nur zwischen
Gut und Böse, sondern auch zwischen verschiedenen anderen Wertpolaritäten.
Das ist aber nicht entscheidend.
Entscheidend ist vielmehr, daß es neben der Spaltung im Werten, noch eine weitere gibt,
die das Werten selbst von einer anderen Weise des Bezogenseins grundsätzlich abhebt. Es
ist eine Spaltung, die mitten durch das Wesen des Menschen geht. Die eine Seite davon ist,
wie gesagt, die Sorge um Selbstwert und Selbstmacht. Mit diesen Intentionen wenden wir uns
den Dingen und Menschen zu, wir bemächtigen uns und bewerten alles und jedes; allem voran
uns selbst. Und welche Seite ist davon abgespalten? Die Wahrnehmung dessen, was sich
ereignet. Werten oder Wahrnehmen ist hier die Frage.
Wir haben es mit zwei
Grundeinstellungen zu tun, die unmittelbar nebeneinander liegen. Dafür den Blick zu
schärfen, ist eine notwendige, aber schwierige Aufgabe. Sie ist deshalb so schwierig,
weil in dem Beginnen selbst die Gefahr der Verfehlung liegt. Nur wenn man beide kennt und
nebeneinander hält, sind sie auch zu unterscheiden. Hier sei nur ein sicher zu kurz
greifender Ausblick gewagt, bei dem die folgenden Namen diesen Unterschied vorläufig
andeuten mögen: Auf der einen Seite das
Werten, auf der anderen das Wahrnehmen. Jenem geht es um Können, diesem um Lassen,
Gelassenheit. Das Werten schätzt und berechnet; das Wahrnehmen stiftet Liebe und
Verstehen, aber auch Abwendung und Zorn. Jenes strebt und scheitert; dieses führt zu
Einstimmung oder auch Mißstimmung. Jenes begreift; dieses schenkt Ergriffensein. Werten,
Können, Rechnen und Streben wollen Sicherheit und Macht; Wahrnehmen, Gelassen- und
Ergriffensein stiften Offenheit, Vertrauen und Verbundenheit.
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- : Objektbeziehungen und Praxis
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Neurotische Konfliktverarbeitung. Eine Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre
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Padrutt, Hanspeter: Der
epochale Winter. Zeitgemäße Betrachtungen. Diogenes, Zürich 1984
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