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Z. f. Individualpsychol., 7. Jg. S. 39-51 (1982) Ernst Reinhardt Verlag München Basel Karl
Heinz Witte Individualpsychologische
Aspekte der Lehrerangst[1] Ein neues Gespenst geistert durch die Schulhäuser und durch
den pädagogischen Blätterwald, die "Lehrerangst«. Wir kennen seinen Namen, aber
woher uns das Grausen kommt, was dieser Ungeist eigentlich ist und von uns will, das
bleibt noch weitgehend im dunkeln. Mit dem
Phänomen Angst tun sich Probleme auf, die in die Abgründe des Denkens und in die Wüsten
der anthropologischen Forschung führen. Die Autoren, die in jüngster Zeit über die Lehrerangst
gearbeitet haben (z. B. Ipfling 1974; Brück 1978;
Weidenmann 1978; Winkler 1978; Winkel 1979; Aufsatzsammlung "Lehrerangst" in
Westermanns Päd. Beiträge 1980), verzichten
auf eine exakte Begriffsbestimmung. Sie umschreiben Angst als ein Gefühl von
Hilflosigkeit, Unsicherheit und Bedrohung (vgl. Brück
1978, 9-43; Weidenmann 1978, 15-23) und verlassen sich darauf, daß jeder schon
irgendwie weiß, was Angst ist. So soll es auch hier geschehen. Es handelt sich nicht um
eine methodisch strenge Untersuchung. Es wird auch nicht angestrebt, das Thema in seinem
ganzen Umfang auszuschöpfen. Es geht um eine Annäherung an einige tiefenpsychologische
Aspekte der Lehrerangst aus der Sicht, die vom individualpsychologischen Denken Alfred Adlers herkommt. Zunächst soll gezeigt werden, wie die Angst im einzelnen
Lehrer erscheint und welches Spezifikum die
Schulangst des Lehrers ausmacht. Dann wird vom Zusammenhang zwischen Angst und Aggression
die Rede sein. Dabei gilt es zu zeigen, daß die Schule als eine Organisation
institutionellen Lehrens und Lernens grundsätzlich Angst in einer ganz bestimmten Weise
erzeugt, abwehrt und in ihren sicherheitsorientierten Kontrollformen zu binden versucht.
Schließlich soll gefragt werden, wie ein gelungener und, wie man zu sagen pflegt,
"weitgehend angstfreier" Unterricht geschieht. Hier wird die Angst des Lehrers
als eine unvermeidbare, ja vielleicht unverzichtbare Angst verstanden, die immer dann
aufsteigt, wenn die Unsicherheit des schöpferischen Impulses und die Freiheit des
lebendigen Lernens gewagt werden. Die
Schulangst des Lehrers als Versagensangst Ein mir befreundeter Kollege,
erfolgreicher Lehrer in leitender Funktion, aktiv und einflußreich in einer Partei und
Berufsorganisation, beliebt bei Schülern, Eltern
und Kollegen, mußte neulich vier Wochen zu Hause bleiben. Die Symptome waren diffuse Kreislaufbeschwerden, Magenschmerzen,
Migräneanfälle und ein allgemeiner Erschöpfungszustand.
Wir hatten uns zuvor wiederholt zu einem ruhigen Gespräch verabreden wollen; aber wir
"schafften" es nicht, die Zeit dafür zu finden. In der üblichen Hetze nehmen
wir uns zu oft selbst die Möglichkeit der Entspannung, aus Angst, den Verpflichtungen
nicht gewachsen zu sein, wenn wir ausruhen. jetzt sagte der Kollege zu mir: "Ich
schaffe die Schule nicht mehr." Wahrscheinlich drückt sich der größte Teil der
bewußten Lehrerängste in diesem Satz aus: "Ich schaffe es nicht mehr.« Ob sich die
Angst auf Schüler, Eltern, Vorgesetzte, Kollegen richten mag, der Inhalt der Angst
dürfte meistens darum kreisen, wie ich als Lehrer und Mensch bestehen kann. An den Lehrer werden spezifische,
schwer zu erfüllende Anforderungen gestellt. Das wird selten bestritten. Doch
Versagensangst haben auch die Angehörigen aller anderen Berufe auszustehen.
Versagensangst ist die Begleiterin jeder Tätigkeit, zu der ich gefordert oder
verpflichtet bin. Mit solcher Angst hat ein Lehrer so gut zu tun wie ein Kellner und wie
ein Kranführer. Wenn wir die Anlässe zu Versagensangst zusammenzählen, dann halten
bestimmt die Schüler einen Platz an der Spitze; denn kaum eine andere Berufsgruppe wird
je so oft geprüft und bewertet wie sie. - Die Angst, vor den Anforderungen zu versagen,
kann sich verschärfen, wenn der Lehrer unter einem besonderen Bewährungsdruck steht.
Davon sind vor allem die Anfänger im Beruf betroffen, die Lehramtsanwärter, Junglehrer
und Studienreferendare, aber auch die Lehrer in
den Anfängen ihrer Laufbahn. Die Frage ist
für sie, ob sie erfolgreich die Rollenvorschriften und Handlungsanweisungen des
Berufsbildes erfüllen können. Die daraus entspringenden Ängste sind allerdings
wiederum unspezifisch. Sie sind mit jedem Positionswechsel in einem Beruf oder in einer
gesellschaftlichen Funktion verbunden. Ein anderer wesentlicher Faktor bei einer Typologie der
Lehrerängste liegt in der Eigenart der Lehrerpersönlichkeiten selbst. Dieser Aspekt
verdiente sicher eine gründliche tiefenpsychologische Untersuchung. Sind gewisse
Charakter- und Neurosenstrukturen im Lehrerberuf besonders häufig anzutreffen? Sind
Lehrer für gewisse Ängste besonders anfällig? Sind sie vielleicht sogar von einer
allgemeinen Lebensangst geprägt, da sie sich ihr Tätigkeitsfeld ausgerechnet unter
Kindern und Jugendlichen und in einer Materie ausgesucht haben, in der sie von vornherein
überlegen sind? Solche Fragen sollen hier jedoch nicht weiter erörtert
werden. Es wird vielmehr nach der Angst als einer kollektiven Erscheinung gefragt, die in
der Tätigkeit des Lehrers selbst und in der Organisation des schulischen Unterrichtens
begründet ist. Wir fragen nach den Ängsten, die aus der erfolgreich übernommenen
Lehrerrolle selbst hervorgehen. Was steht denn für den Lehrer auf dem Spiel, wenn er den
Forderungen seines Berufs nachkommen will? In keinem Gespräch über Lehrerängste fehlt zum Beispiel
der Hinweis auf die Disziplinprobleme: Was sollen wir denn tun, wenn die Schüler die
Mitarbeit schlichtweg verweigern und Unsinn treiben? Was, wenn einer im Unterricht
anfängt zu rauchen und wenn er trotz meines Verbots die Zigarette nicht wegtut? -
Schulstrafen und Notendruck! - Aber wie schnell erschöpfen sich solche Möglichkeiten in
der Praxis! Außerdem fällt es ja auf mich zurück, wenn ich mit einer Klasse auf Dauer
nicht zurechtkomme. Ein Schulrat meinte kürzlich bei seiner Einführung zu einer
Fortbildungsveranstaltung, ein Lehrer, der gravierende Disziplinprobleme habe, gebe keinen
spannenden und zielorientierten Unterricht. Also: Ich muß es schaffen! Warum ängstigt
eine solche Forderung die Lehrer so sehr? - Weil es eine Überforderung ist, der die
Lehrer ausgesetzt sind, wenn sie ihren Auftrag ernst nehmen. Bin ich denn geschaffen,
einen Haufen von Wildkatzen zu bändigen? Die psychologischen Anforderungen
an den Lehrer ergeben sich aus dem Auftrag, den er als Vertreter der öffentlichen
Institution Schule erfüllen soll: Er soll die Schüler qualifiziert ausbilden. Er soll
sie nach ihren Leistungen differenzieren, bewerten und sie für unterschiedliche
Weiterbildungswege auslesen. Er soll im Unterricht und im Rahmen der Schule die Einhaltung
der Spielregeln der Gruppenarbeit und des menschlichen Zusammenlebens garantieren. Und er
soll für die Kommunikationsbedürfnisse unter den Schülern und zwischen Schülern und
Lehrern sorgen (nach Weidenmann 1978, 79-125,
der einer Versagensbedrohung in jedem dieser Tätigkeitsfelder eine charakteristische
"Angststruktur" zuordnet). Wenn ich glaube, daß der Lehrer als Amtsperson diese
Aufgaben erfüllen kann, mache ich einige Voraussetzungen über seine psychischen
Fähigkeiten und über die Art und Weise, wie solche Ziele überhaupt erreicht werden
können. In der pragmatischen Redeweise, die in den Erörterungen über die Schulpraxis
üblich ist, hören sich diese "Basisannahmen" ungefähr so an (vgl. Weidenmann 1978, 122ff.; Brück 1978, 16ff.). Der Lehrer steuert und ist
verantwortlich. Er kann und muß überlegen sein. Er kann und muß die Einhaltung der
Regeln kontrollieren und garantieren. Er kann und muß Vorbild für einen fröhlichen und
doch geordneten und effizienten Arbeitsstil sein usw. Alles in allem: Ich habe als Lehrer
die Macht über die Vorgänge zu haben und habe sie zu gebrauchen, Zugleich fordern aber
meine pädagogischen Ideale, daß ich diese Macht nicht gewaltsam durchsetze. Der
Individualpsychologe erkennt in solchen "Basisannahmen" unschwer das
tendenziöse "individuelle Schema der Einschätzung", das der Neurotiker
errichtet, um dem Ziel der Gottähnlichkeit näherzukommen (Adler [1930] 1974, 57; vgl. die falsche Meinung
von sich und der Welt", Ansbacber 1972,
231). Die Angst des Lehrers besteht zu einem wesentlichen Teil in
der Furcht, er könnte vor den Forderungen, die in diesen Grundannahmen über sein Wirken
enthalten sind, versagen. Es ist allerdings fraglich, ob diese Annahmen die
Voraussetzungen eines erfolgreichen pädagogischen Wirkens richtig erfassen.
Wahrscheinlich sehen die mutmaßlichen Wirkfaktoren eines gelungenen Unterrichts, wenn
man sie aus der gelassenen Stimmung des Rückblicks beschreibt, anders aus, als wenn man
sie im Vorblick als Zielverhalten formuliert, zu dem man sich anspannen muß. In einem
Unterricht, der Erfolg und Freude gebracht hat, habe ich nämlich nicht vornehmlich
diszipliniert, gesteuert, gefesselt und verpflichtet; all das hätte uns nämlich gewiß
den Spaß verdorben. Es war vielmehr ein gemeinsames Tun, in dem den Lehrer und die
Schüler ein Gedanke gefesselt hat und in dem die Freude des Erkennens und Gelingens die
Lerngruppe ergriffen hat. Die in den Zielvorstellungen angestrebten Haltungen stellten
sich als Ertrag der konzentrierten Arbeit "auf dem Rücken des Aktes" (Max Scbeler 1954, 49) von selbst ein. Allerdings erscheint die Versagensangst des Lehrers
berechtigt, wenn er sich vor solche Anforderungen stellt, wie sie die Zielvorstellungen
der zitierten "Basisannahmen" implizieren. Das Versagen angesichts einer solchen
Zielsetzung ist nämlich unausweichlich. Wenn sich das Ich des Lehrers mit erklärtem
Machtanspruch gegen die Lerngruppe stellt, weckt es natürlich die Machtansprüche all der
Iche, die ihm gegenübersitzen und die sich nicht zwingen lassen wollen. Die Angst des
Lehrers ist am Platze", wenn seine tendenziöse, vielleicht sogar institutionell und
kollektiv geforderte Einschätzung seiner Lage und Aufgabe das Klassenzimmer als
Kampfstätte konzipiert und Verlust oder Niederlage arrangiert. Die Angst des Lehrers im Unterricht ist ein Spiegelbild
seiner Einstellung zum Unterrichten und zu den Schülern. Bei genauerem Hinsehen hat sie
ein Doppelgesicht. Sie erscheint als Angst vor der Aufgabe, die ich nicht zu bewältigen
glaube. Diese Angst als Ausdruck der Überforderung durch die Aufgabe ist aber nur die
sonnige Seite der Versagensangst des Lehrers. Die Aufgabe einer tiefenpsychologischen
Betrachtung der Lehrerangst ist es auch, sich der Schattenseite dieser Angst zu nähern,
und dabei hat die Individualpsychologie Alfred
Adlers einen spezifischen Beitrag anzubieten. Die Angst des
Lehrers und versteckte Aggression Jener befreundete Kollege, den ich anfangs erwähnt habe,
erzählte mir eine charakteristische Phantasie, die uns diese Seite der Lehrerangst
deutlich machen kann: In den letzten Wochen vor der Erkrankung habe er sich immer wieder
gegen die Angst wehren müssen, er werde mitten im Schulhaus einen Nervenzusammenbruch
bekommen. Bei genauerer Betrachtung sieht der phantasierte Zusammenbruch so aus. Er werde
auf dem Treppenhaus einen Schreikrampf haben und in Tränen ausbrechen. Er werde Chef
und Schüler mit den gemeinsten Schimpfwörtern überhäufen und die Protokolle der
letzten Disziplinarkonferenz mit einem Kübel Unrat übergießen usw. - Charakteristisch
an dieser angstbesetzten Phantasie, im Unterschied zu den Berichten über die
Versagensangst, ist, daß die angstauslösende Bedrohung hier nicht von äußeren Umständen oder fremden Personen
ausgeht. Diese sind nur Anlaß für eine aus dem Inneren des Lehrers selbst aufsteigende
Bedrohung. Ferner mischen sich in dieser Phantasie Angst und Wut so sehr, daß man gar
nicht recht weiß, ob die Wut aus der Angst
entspringt oder die Angst aus der Wut. Bei den Schilderungen der Versagensangst, insbesondere der
Furcht, die Disziplinprobleme nicht bewältigen zu können, ist offensichtlich, daß der
Lehrer Angst vor der Feindseligkeit der Schüler hat. Man weiß allgemein, daß wir oft
aus Angst aggressiv reagieren. Sogar Hunde beißen manchmal aus Angst. Diese
Zusammenhänge von Angst und Aggression gibt es natürlich in der Schule auch. Unter dem
individualpsychologischen Aspekt soll aber verdeutlicht werden, daß wir einen anderen
Zusammenhang von Angst .und Aggression aufdecken können: die Angst vor der eigenen
unterschwelligen, gehemmten Aggression, die auf andere projiziert wird. Jeder Lehrer weiß, daß im
Kollegium aggressive Vorurteile über einzelne Schüler und Klassen gepflegt werden.
"Ach, die Neun B, das ist doch eine Bande von Rockern", oder gar: "von
Neurotikern!" - "In der Mittelstufe haben sie ja nichts anderes im Kopf als
Fußball, und die Mädchen Sex!" - "Die muß man nur mit gepfefferten
Klassenarbeiten versorgen, dann sind sie handsam." Lehrer, die sich in dieser Weise
aggressiv gegen ihre Schüler verhalten können, geben wenig Angst zu erkennen. Vielleicht
erleben sie auch weniger Angst als die sozial-integrativ eingestellten, gutmütigen,
partnerschaftlichen Lehrer. Bei dieser schülerfreundlichen Lehrergruppe vermißt man
dagegen oft eine berechtigte Aggressivität, selbst wenn ihnen übel mitgespielt wird. Oft
erkennt man jedoch die verborgene Aggression, wenn man die Angstinhalte genauer
betrachtet. Sie fürchten, daß sie sich mit Güte und Vernunft nicht länger durchsetzen
können und lächerlich machen. Das heißt ja, daß sie sich selbst insgeheim in eine Lage
hineinphantasieren, in der die ihnen als Respektspersonen zugedachten Machtmittel
versagen, aus eigener Schwäche angesichts der fremden Feindseligkeit. Auch sie legen sich
also, meistens unbewußt, auf eine aggressive Durchsetzungstechnik fest. Da sie diese
offensiven Taktiken aber nicht geübt haben, decken sie die Machtstrategie mit
Freundlichkeit, Gefügigkeit und Kompromißbereitschaft zu. In ihren bewußten
Einstellungen sichern sie sich zugleich gegen die innere Verpflichtung zum Kampf durch
Verleugnung der Kampfstimmung: "Wenn Ihr auf alle meine Angebote nicht eingeht,
zwingt Ihr mich, härtere Saiten aufzuziehen. Das wollte ich lieber vermeiden (!)." Schon in seinen ersten psychologischen Schriften stellt Alfred Adler die Bedeutung der Aggression für das
Leben und die Neurose in den Blickpunkt (Adler 1908).
"Diese Arbeit hat nicht nur zu einer Grundanschauung der Individualpsychologie
geführt, sondern auch einen verhängnisvollen Einfluß auf die Entwicklung der
Psychoanalyse gehabt" (Adler 1934, 1 f). Diese Bedenklichkeit hat es mitbedingt, daß
die heute noch aktuelle Aggressionslehre der Frühschriften Adlers selten hinreichend
gewürdigt wird. Schon 1908 in seinem "Versuch einer programmatischen (!) Darstellung
des Aggressionstriebes", betont er, in unüberhörbarem Affront gegen Freud, daß
er selbst (nicht die sexuellen, sondern) die aggressiven Regungen "als den
unmittelbarsten, zur nervösen Erkrankung führenden Faktor erkannt zu haben glaube« (Adler 1908, 577; in Adler [1928] 1973, 53 abgeschwächt). Ohne den
"Aggressionstrieb" in einem biologischen Sinne exakt zu bestimmen, nahm er eine
Tendenz im Kind und im Erwachsenen an, aktiv an die Lebensaufgaben und die Verbesserung
der Lebensbedingungen heranzutreten. "Diese seine Haltung hat immer etwas
Angreifendes" (Adler [1928] 1973, 53). Was in den ersten Schriften als
"Aggressionstrieb" bezeichnet wird, erscheint in den späteren Werken mit
einigen Differenzierungen als "schöpferische Kraft" (deutlich z. B. Adler
[1933] 1973, 71). Eine für die Bedingungen der Realität und die Forderungen der
Gemeinschaft offene, schöpferische Stellungnahme zur Umwelt nennt Adler die
"kulturelle Aggression"([1928 1973, 64.72.81). Unter manchen nachteiligen
Lebensbedingungen kann diese schöpferische Kraft gehemmt sein und in Verzerrungsformen
als "feindselige Aggressionsstellung« (Adler [1928] 1973, 78) auftreten. Hierher
sind die Formen des Trotzes, des offenen Überlegenheitsstrebens, der Kriminalität usw.
zu rechnen. In anderen Fällen kann aber die feindselige Regung auch in einem freundlichen
Gewande daherkommen, z. B, in Gehorsam, Hilfsbereitschaft, Fürsorge und Mitleid. Adler hat immer
wieder gezeigt, wie ein Affekt, der auf Durchsetzung und Überlegenheit zielt, in
verschiedene Kostüme der Schwäche und Gefälligkeit gekleidet werden kann. Unter diese
Umkehrformen der Aggression ist auch manche Ängstlichkeit zu rechnen. Allerdings ist der
Ursprung der Ängstlichkeit aus einer feindseligen Regung noch besser versteckt als etwa
die aggressive Komponente des habituellen Mitleids. Wenn mein Durchsetzungswille und die
schöpferische Kraft in mir so geschwächt sind, daß ich keine Hoffnung habe, auf
aktive Weise die Lebenssituation zu verbessern, kann ich sowohl meinen ursprünglichen
Durchsetzungswillen als auch meinen Zorn über dessen Vereitelung vergessen.
Gleichzeitig unterstelle ich den Mitmenschen oder dem Leben allgemein einen feindseligen
Charakter, der meine Lebensinteressen und Zielsetzungen bedroht. Die Angst "stellt
(dann) eine Phase des gegen die eigene Person gerichteten Aggressionstriebes dar und ist
nur mit der halluzinatorischen Phase anderer Triebe zu vergleichen" (Adler [1928] 1973, 61). Der Durstige in der Wüste
halluziniert das Wunschbild eines Brunnens. Der wütende Lehrer, der seine Aggression
hemmen und verstecken muß, "halluziniert" Feindseligkeit der Schüler, der
Eltern, des Chefs usw. Er stellt sich vor, wie grausam, undiszipliniert, desinteressiert,
ablehnend, triebhaft, rauflustig die Klassen sind. Denn so wäre er selbst, wenn er
hemmungslos seinen Leidenschaften folgen würde, meint er. In einer solchen feindseligen
Welt, die er durch seine aggressive Grundeinstellung selbst mitgeschaffen hat und in der
Phantasie ständig erhält, meint er nicht bestehen zu können. Er hat Angst. Es soll keineswegs bestritten
werden, daß in manchen Situationen in den Schulklassen Realangst des Lehrers
verständlich und angemessen ist. Hier aber geht es um die tiefenpsychologischen Aspekte
einer Angst, die, gemessen an der durchschnittlichen Realität, unangebracht erscheint.
Hier gilt die These: Solche Lehrerangst kann das Äquivalent der (unterschwelligen)
Aggression des Lehrers sein. - Das Kind sucht der allgemeinen Lebensunsicherheit durch
produktive und aktive Lebensstrategien Herr zu werden. Vielleicht herrscht am Grunde des
individuellen Daseins eine Basisangst oder Urangst (Heidegger),
welche durch die Produktionen der
"schöpferischen Kraft oder der "kulturellen Aggression" beschwichtigt
werden soll. Von dieser Basisangst ist eine sekundäre Angst zu unterscheiden. Sie tritt
dann auf, wenn die ursprüngliche schöpferische Kraft gehemmt, gebrochen, deformiert
oder verschüttet ist. Sie entspringt aus einer Entmutigung und charakterisiert die
feindselige Stellung zu den Lebensaufgaben und zu den Mitmenschen. Sie führt dazu, die
Bemühung um Sicherung und Erfolg in der Lebensbewältigung zu verstärken, freilich auf
eine Art und Weise, die die schöpferische und mitmenschliche Lösung ausschließt. Die
Befürchtung, daß der Charakterpanzer oder die neurotischen Lebensformen und
Sicherungstendenzen zur Lösung der Lebensprobleme nicht mehr ausreichen könnten,
führt dazu, daß der Panzer verhärtet, die Anstrengung verstärkt und der
Wiederholungszwang vertieft werden. Es scheint, daß die an die Lehrerrolle gebundene Angst in
dem eben skizzierten Sinne sekundäre Angst ist. Sie ist die Angst davor, daß die
Techniken der Sicherung gegen die Grundangst nicht mehr ausreichen könnten. In diesem
Sinne ist sie Angst vor der Angst: Die in der schulischen Belastungssituation auftretende
Angst warnt mich, ich könnte in eine Lage kommen, in der unter den Disziplinierungs- und
Unterweisungsstrategien die elementare Unsicherheit der Gruppensituation und die Ohnmacht
des Ichs angesichts seiner Manipulationswünsche aufscheinen könnten, das heißt, daß eigentlicbe Angst erlebt werden müßte. Eine
sehr häufig bei Lehrern anzutreffende Beängstigung knüpft sich an die Verpflichtung,
Schulaufgaben zu bewerten und Zeugnisnoten zu erteilen. Im Bewußtsein tritt die
Beunruhigung auf, ob die Bewertung einer Beschwerde standhalten könnte. Vor allem richtet
sich die Angst auf die Unklarheit der "mündlichen Noten", aber zahlreiche
Lehrer befällt auch eine panische Angst vor der Herausgabe der Schulaufgabe. Ein Kollege
versäumt fast regelmäßig den Termin, an dem er eine Schulaufgabe an die Klasse
zurückgeben müßte. Am Tag, an dem er vor der Entscheidung steht, meldet er sich sogar
gelegentlich krank. Er hat die Arbeit peinlich genau korrigiert, aber er kann sich nicht
entschließen, einzelne Aufsätze zu bewerten. Bei 10 von 25 Arbeiten schwankt er zwischen
zwei Noten. Außer dem Problem der Nachkorrektur und einer möglichen Beschwerde ist in
einer solchen Situation die Aufgabe beängstigend, der Enttäuschung der Schüler zu
begegnen und ihnen die Zensuren zu begründen. Karen
Horney sagt ganz im Sinne Adlers. "Sobald ich Angst oder Anzeichen von Angst
finde, sind die Fragen, die sich mir sofort
aufdrängen, diese: Welcher empfindliche Punkt wurde hier verletzt und hat infolgedessen
Feindseligkeit erzeugt, und was war an der Notwendigkeit einer Unterdrückung (dieser
Feindseligkeit) schuld? Nach meiner Erfahrung führt eine Suche in dieser Richtung oft zu
einem befriedigenden Verständnis der Angst" (1951, 50). Wo liegt wohl der
empfindliche Punkt, der bei der Notengebung getroffen wird? Wahrscheinlich in dem
Widerspruch zwischen der pädagogischen Einsicht des Lehrers und dem gesellschaftlichen
und schulpolitischen Auftrag, den er zu erfüllen hat. Die Motivationsideologie gaukelt
jedem einzelnen Schüler vor, er könnte eine gute oder sehr gute Zensur bekommen, wenn er
sich nur richtig anstrengen würde. Andererseits wissen alle, daß aufgrund der
verordneten oder gewohnheitsmäßigen Ausrichtung der Notendurchschnitte etwa 70 % der
Schüler von guten und sehr guten Noten statistisch ausgeschlossen sein müssen. Eine
solche statistische Häufigkeitsvertellung der Zensuren mag Gründe für sich haben. Wenn
sie zur Auslesenorm wird, steht sie in Widerspruch zu den Formen und Erfordernissen eines
freien und individuellen Lernens, das der Sache und dem Schüler gerecht werden will. Wenn
die Bewertungs- und Auslesezwänge den Prozeß des Lehrens und Lernens überwuchern, wie
es im gegenwärtigen Schulbetrieb der Fall ist, wird jede individuelle und sachliche
Motivation zu einer institutionell entlarvten Lüge. Wenn ich als Lehrer Angst habe, ob
meine Bewertung einer Überprüfung standhält oder ob ich einem erfolglosen Schüler
hinreichend klarmachen kann, warum seine Zensur unvermeidbar ist, so begegne ich in dieser
Angst nicht der elementaren Unsicherheit des schöpferischen Prozesses, die sich im
Lehren, Lernen und Beurteilen wesensgemäß einfindet, sondern den Ungereimtheiten eines
Sicherungssysterns und Unterweisungsapparats, der an die Stelle des schöpferischen
Lehrens und Lernens die Fiktion einer wohlproportionierten und abgewogenen
Wissensvermittlung und einer leistungsbezogenen Gerechtigkeit gesetzt hat. Die Angst des
Lehrers, der seine Klassenarbeit nicht zu Ende korrigieren kann, verstärkt sein Bemühen,
sich den Fiktionen der Unterweisungstechnologen und den Forderungen der Kontrollinstanzen
anzupassen. Beispiele für diesen Widerspruch
zwischen Kreativität und institutioneller Regelung in der Schule könnten unzählige
aufgeführt werden: Wir sollen zu Individualität und Zivilcourage erziehen, müssen aber
andererseits den pädagogischen und bildungspolitischen Moden folgen oder Regelungen
verteidigen, die wir als Lehrer selbst für unsinnig halten. Wir sollen die Bewertung
durchsichtig machen, weichen in diesem Bestreben aber auf eine Scheinobjektivität aus,
die anhand von ausgetüftelten Lernzielkategorien und Rohpünktchen dem Schüler
unanfechtbar sein Versagen demonstriert. Die Schüler sollen beim Unterricht mitwirken;
aber wehe, wenn sie sich für etwas interessieren, was im überfüllten Lernprogranim
nicht vorgesehen ist oder an anderer Stelle drankommt! Wir wissen, daß Erkenntnisse Zeit
brauchen und daß sie unplanbar und in einzelnen Köpfen verschieden zünden. Wir fügen
uns aber den Stundentafeln und organisieren den Stoff nach systematisch gewonnenen
Lernzielen und linear voranschreiten der Aneignungsphasen. Ich soll und will den
einzelnen meine Kraft widmen, besonders denjenigen, die sich schwer tun; aber ich sorge
faktisch dafür, daß die "Guten" besser und die "Schlechten"
schlechter werden. In diese Widersprüche komme ich, wenn ich als Lehrer arbeite,
unausweichlich. Sie sind Widersprüche der gesamten Unterrichtsorganisation. Wir finden
uns täglich damit zurecht, schaffen Kompromisse. Das geht, solange man keine dieser
widersprüchlichen Forderungen wirklich ernst nimmt. Die Unlösbarkeit der Widersprüche
könnte aber auch Aggression auslösen. Im Ernstfall von Beurteilungen und Überprüfungen
treten die institutionellen Forderungen als unabdingbar auf. Es scheint, als müßten wir
an die Lösbarkeit des Problems glauben. Doch das geht nur, wenn wir uns beschwindeln.
Darum unternehmen wir jeden Tag aufs neue größere Anstrengungen. Der etwa aufsteigende
Zorn über die Ausweglosigkeit dieser Bemühungen kann nicht problemlösend, kreativ
eingesetzt werden, Ich muß ihn bändigen. Wenn der Zorn "verschwunden" ist,
bleibt mir die Angst. Wieder
soll darauf hingewiesen werden, daß hier nur die eine Seite der schulischen Wirklichkeit
beschrieben wird, die von institutionellen Zielsetzungen geprägt ist. Wären diese
beherrschend, müßte man sich fragen, wie es möglich ist, daß Unterricht trotz allem
Spaß macht und gelingt und daß sich Lehrer und Schüler trotz all dieser Widersprüche
gelegentlich wohl fühlen. Wir beschreiben ja nur die Zielfiktionen, die Angst machen;
denn insgesamt sind die Forderungen und Kontrollen, die das System Schule Lehrern und
Schülern aufzuerlegen scheint, offenbar nicht so rigid, wie es das schulische Überich
fingiert. Immer wieder findet die Menschlichkeit des Zusammenwirkens ihren Raum. Immer
wieder findet die Sache, die im Unterricht verhandelt wird, den Weg zu dem Interesse von
Lehrern und Schülern. Immer wieder gelingt es, eine Lösung unvollkommener, aber
praktizierbarer Gerechtigkeit zu finden. In solchen Situationen münden Angst oder
Aggression, wenn sie aufsteigen, in schöpferische, zündende Erkenntnisprozesse. Kollektive,
zwanghafte Angstabwehr Da der Gesichtspunkt der
Untersuchung nicht vorrangig im individuellen, schöpferischen oder neurotischen,
Bereich liegt, sondern die in der Lehrerrolle selbst angelegten angststiftenden Elemente
tiefenpsychologisch betrachtet werden soIlen, mag es erlaubt sein, die Dynamik der
Lehrerangst noch in einem weiteren dezidiert kollektiven Aspekt zu analysieren. Freilich
ist das einstweilen nur thesenhaft möglich. Diese Deutung soll darauf ausgehen, in dem
Gesamtkomplex Schule eine ähnliche Dynamik aufzufinden, wie wir sie aus der Analyse der
Einzelpsyche kennen. Wie wir im Charakter des Individuums trotz seiner einheitlichen und
ganzheitlichen Ausrichtung verschiedene, teilweise gegensätzlich erscheinende Züge
beobachten, so könnte man die gegensätzlichen Gruppen oder Tendenzen im Schulbereich als
differente Felder verstehen, auf denen die schulische Überlebens- und
Überlegenheitsstrategie mit verschiedenen Taktiken sich durchzusetzen versucht. Unter
dieser Voraussetzung soll die These versucht werden, daß in der "Kollektivpsyche
Schule"Angst in ähnlicher Weise auftritt und abgewehrt wird, wie es im zwanghaften
Charakter des Individuums geschieht. Unter einer solchen Hypothese versuche ich die
Dynamik einer Zwangsneurose zu beschreiben und dabei zugleich von der Dynamik der
Schulorganisation zu sprechen: In allgemeinster Bedeutung spricht man in der Psychlatrie
von einem Zwang, wenn der Betroffene sich von einem "Bewußtseinsinhalt nicht lösen
kann, obschon er ihn gleichzeitig als inhaltlich unsinnig . . . beurteilt" (K. Schneider, zit. n. Benedetti 1978, 1). Welche Bewußtseinsinhalte
treten denn in der Schule kollektiv und im Sinne der Definition zwanghaft auf? - Alle (!)
Fehler müssen angestrichen und verbessert werden. Die Einhaltung der Ordnung muß
gesichert werden. Die Notengebung muß hieb- und stichfest sein. Die Ausführung der
Unterrichtsverpflichtung und die Erfüllung des Lehrplans müssen überwacht werden. Die
Aufsicht über die Schüler muß lückenlos sein. Vergehen müssen geahndet werden. Solche
und ähnliche Zielsetzungen haben eine Fülle von "Zwangshandlungen" zur Folge:
Protokolle, Meldebögen, Datierung der mündlichen Noten, Nachkorrekturen,
Überprüfungen, Aufsichten über die Aufsicht. Das Kriterium der Zwanghaftigkeit ist
dabei, daß man übereinstimmend sagt: "Es ist unsinnig, aber es muß sein." Von diesen Zwangshandlungen sind die Zwangsimpulse zu
unterscheiden (vgl. Benedetti 1978, 67f.), in
der Zwangsneurose z. B. Mord- oder Selbstmordirnpulse, zwanghaftes Fluchen,
Kopfschütteln, Grimassieren usw. Solche
Impulse drücken die gefürchteten Tendenzen des Kranken unmittelbar aus. Sie
entsprechen aber nicht bewußten Wünschen oder Drängen, sondern ängstigen das Ich, das
fürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Zwangshandlungen dagegen sind Kontrollmaßnahmen,
die verhindern sollen, daß die Impulse sich durchsetzen. Auch in der Schule dürften
solche Zwangsimpulse auftreten. Sie finden sich auf der Seite der Schüler, aber auch
"widersätzlicher" Lehrkräfte. Nicht selten hören wir Ja, daß viele Schüler
gar nicht aus eigenem Willen heraus, sondern wirklich zwanghaft schwätzen, zuspätkommen,
die Hefte verschmieren, albern sind usw. Aber
auch bei Lehrern kann man, wenigstens in der Phantasie, Befürchtungen finden, sie würden
gegen ihren Willen etwas Schlimmes tun. Aus realen Befürchtungen, Phantasien und Träumen
sind etwa folgende Vorstellungen von Zwangsimpulsen bekannt- die Schülerakten verlegen,
ein Feuer anzünden, den Unterrichtsbeginn vergessen, die Klasse nicht finden, sich
unanständig versprechen, den Hosenstall offenstehen haben, eine vorgeschriebene
Klassenarbeit auslassen, eine fertig korrigierte Schularbeit verlieren usw. Immer handelt
es sich um Impulse, die gegen meinen Willen über mich Herr werden und sich gegen die
Ordnung des Schullebens richten würden. In welcher Weise mischen sich nun Angst und Aggressionen in
der Zwangsneurose und welchen Aufschluß können wir aus einer solchen Betrachtung über
die tiefenpsychologische Dynamik der Lehrerangst in der Schule gewinnen? - In den
zwischenmenschlichen Beziehungen der Zwangskranken verstecken sich unter der Maske von
Freundlichkeit, Fürsorge und Zuneigung in der Regel Abneigung und Feindseligkeit. In der
Familie herrschen scheinbar Harmonie und freundliches Miteinanderleben, solange die
verabscheuten Triebregungen, Unordnungen und Selbständigkeitsregungen vermieden
werden können. Solche Regungen wollen sich aber auch gegen ihre Unterdrückung
durchsetzen. Darum ist die Aggression des Zwangskranken jederzeit bereit
hervorzubrechen. Sie wäre berechtigt, weil sie eine Antwort auf die Vereitelung der
schöpferischen Selbstentfaltung wäre. Sie würde einen Schritt zur Auflösung des
krankmachenden Familienzusammenhalts bedeuten. Zugleich wäre sie die Entlarvung der Maske
des Kultur- und Liebesideals. Aber der Zwangskranke fühlt sich zugleich davon abhängig,
daß das System, in dem er lebt, weiterhin funktioniert. Darum wird die Aggression im
Zwangsimpuls erahnbar; die mit dem Bruch verbundene Angst aber wird zugleich gebunden im
Kontrollzwang. Die Sicherungsmaßnahmen sollen die aufkeimenden Impulse beherrschen. Der
Zwangsneurotiker gerät darum in panische Angst, wenn er gehindert wird, die
Kontrollzwänge auszuführen. Die ursprüngliche Lebensangst und der schöpferische Umgang
mit der Herausforderung durch die Lebensaufgaben werden nicht zugelassen. Das Ich schützt
sich durch Kontroll- und Sicherungsverhalten vor dieser ursprünglichen Bedrohung. Es
reagiert mit Angst, wenn die Kontrollen lückenhaft werden oder unzulänglich erscheinen,
und versucht diesen sichernden Lebensstil zu verstärken. Auch die Schule als Kollektiv erlebt keine Angst, sondern
versucht die ursprüngliche Angst und Unsicherheit fernzuhalten. Wenn Angst auftaucht,
wird sie als Versagen oder Versehen abgetan. Wenn Fehler vorkommen, wenn z. B. Eltern sich
beschweren, wenn eine Störung der Aufsicht oder Planerfüllung kurzfristig Angst
aufkommen lassenkönnte, reagiert die Schule in der Regel mit Verstärkung der
Sicherungsvorkehrungen. Wie der Zwangskranke
meint, er sei mit dem Tode bedroht, wenn die Kontrolle nicht mehr funktioniert, so scheint
sich die Schule mit derselben Erbitterung gegen eine Störung ihrer Ordnung zu wehren.
Wenigstens scheint dem Beobachter ein solches Gefühl der Bedrohung vorausgesetzt zu sein,
wenn er die Erbitterung und manchen kreuzfahrerischen Eifer verstehen will, die in der
Entrüstung über die "chaotischen" Zustände an unseren Schulen mitschwingen. Wieder darf man freilich nicht vergessen, daß eine solche
Beschreibung nicht die ganze Realität der funktionierenden Schule trifft. Solche
Einstellungen sind in manchen Proklamationen in der Lehrerkonferenz und in Schulordnungen
vorausgesetzt; aber die Schule funktioniert als ein mehr oder weniger genießbares Gemisch
von prinzipiellen Forderungen, ideellen Fiktionen und menschlichen Unvollkommenheiten. Vor
allem setzen sich immer wieder die eigene Würde des Unterrichtsstoffs und die lebendige
Energie der Personen durch. Doch in den Köpfen mancher Lehrer und in den Idealen, die
unausgesprochen in der Einrichtung der Schule das Ziel bestimmen, scheint gelegentlich der
direkte Glaube an die Allmacht der Gedanken oder an die Möglichkeit der Perfektion zu
herrschen; und das ist auch ein niemals fehlender Zug in der Zwangsneurose (Benedetti 1978, 70-76). Keine Frage, daß der
Glaube an die Möglichkeit der Perfektion in der Ideologie der Schule virulent ist. Wenn
einer die Aufgaben wirklich erfüllen wollte, die ihm in den Forderungen der schulischen
Richtlinien und der pädagogischen Wertordnungen zugemutet werden, müßte er geradezu
allmächtig sein. Dabei mag sich die Allmachtsfiktion an einer so lächerlichen
Überzeugung festmachen, einmal müßte es doch durch gemeinsame pädagogische Anstrengung
der Lehrer zu schaffen sein, daß der Schulhof von Bananenschalen und Colaflaschen
freibliebe, daß auf den Toiletten nicht mehr geraucht würde usw. Oder einer mag glauben, durch Ermahnungen, Argumente und Strafen
könnte man es erreichen, daß die Schüler im gepflasterten Pausenhof nicht mehr Fangen
spielen. Beängstigend und unter Umständen zermürbend ist aber die Erwartung, daß wir
durch die Tricks eines Showmasters und durch einen folgerichtig zielführenden Unterricht
die Kinder Stunde um Stunde an unsern Stoff fesseln könnten. Auch Dompteure in der Manege
haben Angst. Solche Angst ist für Lehrer unvermeidbar, wenn sie sich auf ein Machtspiel
verpflichten. Wenn man in der Schule kollektiv meint, daß dieses Macht-
und Überzeugungsspiel über die natürlichen Lebensäußerungen und die kreativen
Lernbedürfnisse der Schüler, aber auch der Lehrer hinweggehen und ohne Schaden für
beide Gruppen gewonnen werden könnte, so erliegt man einem aggressiven Machtrausch. Die
Lehrerangst, die in einer solchen Situation aufkeimt, ist die Furcht vor den Ansprüchen
eines kollektiven Größenwahns, auf die sich der Erziehungs- und Unterrichtsbeamte
verpflichtet wähnt. Die
Lehrerangst und das kreative Lernen Wie gelungener Unterricht wirklich geschieht, das ist im
einzelnen nur sehr schwer auszuführen. Es geht hier nur darum, ein paar Gedanken über
das kreative Lehren und Lernen, soweit dieses selbst das Thema der Lehrerangst aufwirft,
zu skizzieren. Ein unverstandenes, unterschwelliges Geschehen, in dem die schöpferische
Kraft wirkt, ist dabei abzuheben von der Vorstellung des bewußten und gezielten
pädagogischen Wirkens und Wollens, die sich der Lehrer bei der Unterrichtsvorbereitung
zurechtlegt. Die damit verbundene Angst beschrieb mir eine Kollegin, die die Ausbildung
für die Grundschule mit den beliebten Unterrichtsentwürfen gerade hinter sich gebracht
hatte, als die Furcht, sie könne nicht genügend Material und Einfälle für die sechs
Stunden am Vormittag zusammenbringen. "Manchmal komme ich mir vor wie ein ganzes
Zirkusunternehmen. Ich muß Clown sein, Trapezkünstler, Dompteuse und
Dressurkünstlerin." Alle fünf Minuten ein neuer Impuls, gefällige Arbeitsblätter,
fesselndes Anschauungsmaterial, hellsichtige Vorausplanung! Vor allem
"Flexibilität«! Aber was heißt hier Flexibilität? Nicht, daß ich den
überraschenden Wendungen der Gedanken nachspüren kann, sondern daß ich den
davoneilenden Gedankenstrom zu überholen und zu bändigen versuche, ihn auf meine
Ziellinie zurückführe, dazu muß ich als Lehrer flexibel sein. Es scheint, daß in dieser Charakterisierung des
Unterrichtsgeschehens ein "hysterisches" Element angedeutet ist, dem die
Unterrichtsmethodik zur Zeit verfallen ist. Nichtigkeiten werden spannend aufgeplustert
und in Szene gesetzt. Wenn ich das unentwegt schaffen soll, kann mir angst und bange
werden. Aber zum Glück ist es in den gelungenen Stunden nicht so. Wir kennen die Tage, an
denen es "ganz von selbst" läuft. Man ist von einem Stoff angeregt. Man hat
eine Idee; die stellt sich zu anderen. Für die Schüler reimt sich etwas zusammen, und
wenn ich in der Lage bin, den Ideen, die mir und den Schülern kommen, offen zu sein, wenn
ich mich von den Gedanken ansprechen lasse, entsteht Erkenntnis. Das Erkennen selbst, und
sei es ein noch so "simpler" (!) Gedanke, ist zündend. Auch wenn wir einen Satz
schon hundertmal gedacht haben, wir werden mitgerissen, wenn er in einer Gruppe neu
gedacht wird und wenn wir ihn neu sehen. Freilich, einen solchen zündenden Gedanken kann
man nicht herbeizwingen, man kann allenfalls die Bedingungen schaffen, daß eine
Erkenntnis zustande kommt. Manchmal gelingt das nicht. Manchmal aber kommt auch etwas ganz
anderes heraus, als man vorhersehen konnte. Nun frage ich mich, ob ich meinen
Kontrollansprüchen recht geben soll oder ob ich und wie weit ich den unvorhergesehenen
Gedanken nachhängen darf. Hier kann eine Angst zum Vorschein kommen, die mit der
Freiheit untrennbar verbunden ist. Ich will sie die Angst vor dem schöpferischen. Lernen
nennen. Die behavioristische Lerntheorie und empirische Pädagogik haben uns den Blick auf
die schöpferischen Elemente des Lernens und Lehrens verstellt. Und was uns dann im
Gegenzug aus derselben Ecke als "Kreativität und Schule« (Mühle/Schell 1970) oder
"Kreativitätstraining" angeboten wurde, ist auch nicht viel besser als
Tricktrack. Schöpferische Kräfte überfluten die Strebungen des Ichs. Sie kommen immer
überraschend, als Einfall. Einfälle (!) aber können dem Ich willkommen oder störend
sein. Ob sie das eine oder das andere sind, ist abhängig von den Zwecksetzungen des Ichs.
Darum kümmern sich die Einfälle aber nicht. Weil sie nicht planbar sind, machen sie dem
Ich auch Angst, wie alles Lebendige, das uns zugleich beschenkt und bedroht. Lehrerangst ist eine Bedrohung
von innen. Das ist sehr anschaulich und ausführlich in einer Studie von Horst Brück
(1978) dargetan worden. Er geht davon aus, daß der Lehrer als Sozialisationsagent
dafür verantwortlich ist, die Kinder zu einer angemessenen Form der
"Erwachsenheit" hinzuführen. Der Lehrer ist in der Schule der Repräsentant der
Erwachsenheit. Zugleich geht, ihm meistens unbewußt, die zurückgebliebene Kindlichkeit
des Lehrers ein Bündnis mit der Kindlichkeit der Schüler ein. Diese Kindlichkeit ist nun
der Störenfried und in Konfliktsituationen auch der Feind der zielgerichteten Strebungen
des Lehrers. Dieser Betrachtungsweise Brücks liegt
die Freudsche Gegenstellung des Lustprinzips
und des Realitätsprinzips zugrunde (Brück 1978,
328 ff .). Nun ist kein Zweifel, daß Lust und Realität in der Schule häufig in Konflikt
geraten; aber es wäre eine masochistische Fiktion, wenn man einem
"Realitätsprinzip" zum Siege verhelfen wollte, welches "das Kindliche, das
Unerwachsene, das Unerzogene" ausschließt; denn es ist zugleich "das Kreative,
das Ungehemmte, das Spontane, das Verstockte, das Trotzige, das Unmittelbare, das
Vorbehaltlose, das Lachende, das Weinende, das Liebende, das Hassende, das Aggressive und
das Sexuelle" (Brück 1978, 36). Dieses
sogenannte Kindliche ist doch wohl schlichtweg das Menschliche, und diese Elemente des
"Kindlichen" sind keineswegs bloß Störfaktoren im Unterricht. Lebendiger
Unterricht ist ohne sie nicht möglich. Nur wenn wir die beherrschende Fiktion eines
planvollen, sachlichen, zielorlentlerten "Schulehaltens" wörtlich nehmen,
müssen solche lebendigen und schöpferischen Elemente Angst machen. So wäre die Angst
des Lehrers nicht bloß die Angst vor dem heraufsteigenden Kindlichen, das die
Erwachsenheit bedroht, wie Brück es sieht,
sondern die Angst vor dem Schöpferisch-Menschlichen, welches das kollektiv-neurotische
Macht- und Sicherheitsstreben bedroht. Schöpferische Kräfte können Angst machen; denn sie
implizieren Unsicherheit des machtorientierten Ichs. Freiheit für die schöpferischen
Kräfte heißt Offenheit für überraschende Möglichkeiten des inneren und äußeren
Daseins. Die Angst aus der Freiheit des schöpferischen Lernprozesses gilt es auszuhalten.
Nur wenn wir durch sie hindurchgehen, ist Erkenntnis als Befreiung möglich. Was
versäumen wir denn, wenn wir aus Furcht vor dieser schöpferischen Freiheit die
Leitplanken unseres Schulunterrichts allzu rigide bauen! Freilich gibt es manche, die
meinen, daß schöpferisches Lernen " in der Realität" nicht sein könne - weil
es nicht sein darf. Wir sollten den lebendigen Wahrheitssinn und die
Kooperationsfreudigkeit der Schüler nicht unterschätzen; denn wenn wir das tun, lähmen
wir die schöpferischen Kräfte. Zweifellos ist hier schon viel Schaden eingetreten, und
ein "Heilen und Bilden" im individualpsychologischen Sinne droht die Kräfte
manchesmal zu überfordern. (Adler [1928] 1973,
bes. S. 430ff.: "Es ist aber leicht zu verstehen, daß die Schule die einzige Instanz
wäre, die die Eignung hätte, der Verwahrlosung Einhalt zu gebieten. Freilich nicht in
ihrer jetzigen Gestalt." Vgl. dazu Adler [1930]
1976, 94-107.) Wir brauchen die Einsicht, daß wir den schöpferischen
Unterricht nur ermöglichen können, wenn wir selbst von den Haltungen, die das
Schöpferische entbinden, erfüllt sind: Nicht wir bemächtigen uns einer Sache, sondern die Sache spricht uns an, und wir suchen gemeinsam,
sie ursprünglich zu verstehen. Ein solches
kreatives Lehren und Lernen soll nicht mit einem sogenannten "antiautoritären",
in Wahrheit bindungslosen Unterricht verwechselt werden. Es ist wirklich antiautoritär,
da es Autorität, das ist auctoritas (Autorschaft),
ermöglicht. Das Chaos ist aus sich nicht schöpferisch im menschlichen Sinne. Freiheit
braucht einen Raum. Selbstunsicherheit kann sich sowohl in Rigidität als auch in
Haltlosigkeit äußern. Ebenso ist im schulischen Rahmen Ordnung dazu notwendig, daß
Freiheit und Spontaneität ermöglicht werden und zu schöpferischer Erkenntnis führen.
Wir bewegen uns im Spannungsfeld von lebendigem Bewußtseinsstrom und starrer
Begriffsregel. In dieser Spannung lebt die Freiheit des Lehrens und Lernens. Sie ist nach
beiden Polen hin von Angst gesäumt. Auf der einen Seite steht die lebenverneinende Angst
vor der Freiheit, die planvolle und kontrollierte Anpassung und Unterweisung will und
gelegentlich zur Zucht und Indoktrination führt. Auf der anderen Seite steht die
lebenbejahende Angst in Freiheit, die schöpferisches Lehren und Lernen eröffnen, aber
nicht bewirken kann. Literatur Adler, A..
DerAggressionstrieb im Leben und in der Neurose. In: Fortschritte der Medizin 26 (1908)
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Originaltitel: The Education of Children, New York 1930 -, Der Sinn des Lebens. 1933. Hrsg. v. W Metzger, Frankfurt 1973, Fischer Tb 6179 -, Die Formen der seelischen Aktivitat. In: Internationale
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Rowohlt, Hamburg 1978 Horney, K.. Der
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(Hrsg.): Kreativität und Schule. Piper, München 1970 (= Erziehung in Wissenschaft und
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"Lehrerangst? Oder: Vom Unbehagen in der Schule", Beiträge von Klaus/Tiebald/Wagner; Brück, H.; Hofsommer, W.;
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"Die Angst des Lehrers vor seinem Schüler". In: die schulfamilie 27 (1978( 156
- 161 Karl Heinz Witte Studiendirektor, ip-Berater Ortolfstraße 17, D-8000 München 60 Jetzt: St.-Anna-Platz 1 80538 München
[1] Leicht überarbeiteter Vortrag, gehalten auf der Tagung "Lehrerangst" der Referendarvertretung im Bayerischen Philologenverband in Nürnberg am 18./19. 7.1980 |