Z. f. Individualpsychol., 13. Jg., S. 16-25 (1988) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel

Das schielende Adlerauge - oder wie Alfred Adler die Schätze seiner ursprünglichen Theorie übersah* KARL HEINZ WITTE

The Eagle-Eye Squints - How Alfred ("Eagle") Adler Overlooked the Treasures of His First Theory

With the introduction of "social interest" as the criterion of mental health, Adler's broad critical anthropology was narrowed down to a morally oriented theory of neuroses and pedagogics. The neurotic is now indiviously considered an egoistic coward. The actual "social interest" as a value phenomenon is ambivalent and also has ambivalent effects upon neurosis. An exploration of the phenomena "social interest", mental discorders and health should reexamine the basic premises in regard to Adler's early original theoretical assumptions. There is some indication that Adler was shocked by the enormity of the collective power neurosis and morally demanded the "social interest", thereby installing it in individual psychology as a power-imbued striving for community without intending it.

Mit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls als Kriterium der Gesundheit wurde die allgemeine kritische Anthropologie Adlers auf eine moralorientierte Neurosenlehre und Pädagogik eingeengt. Der Neurotiker wird als egoistischer Feigling diskriminiert. Das reale Gemeinschaftsgefühl ist als Wertphänomen ambivalent und wirkt so auch in der Neurose. Eine Erforschung der Phänomene Gemeinschaftsgefühl, psychische Krankheit und Gesundheit sollte die Sache selbst neu untersuchen und zugleich die ursprünglichen Theorieansätze Adlers einbeziehen. Einige Anzeichen deuten darauf hin, daß Adler von seinem Einblick in das Ungeheuerliche der kollektiven Machtneurose zurückgeschreckt ist und das Gemeinschaftsgefühl moralisch gefordert, das heißt als machtförmiges Gemeinschaftsstreben in der Individualpsychologie installiert hat, ohne es zu wollen.

Adlers Gedanken sind schwer zugänglich, weil uns die Quellen nur schlecht bekannt sind. Seine Gedanken sind aber auch schwer verständlich, weil sie schwer zu ertragen sind. Wahrscheinlich hat Adler seine ursprünglichen Theorieansätze später selbst nicht mehr ertragen.

1. Die Wende: Wegwenden des Blicks

Allgemein bekannt ist, daß die Theorie Adlers mit dem Ende des Ersten Weltkriegs in eine Wende kommt. Sie steht unter dem Schlagwort: vom Machtmenschen zum Mitmenschen. Das Wort Wende möchte ich ganz mit dem gegenwärtigen politischen Beiklang verstanden wissen. Inhaltlich ist die Wende gekennzeichnet durch die Einführung des Begriffs „Gemeinschaftsgefühl". Dabei hätte, so lautet die klassische Meinung, das Gemeinschaftsgefühl zunächst lediglich die Rolle einer das Machtstreben korrigierenden Gegenkraft („Gegenfiktion") gehabt. Das neurotische, pathologische Machtstreben sei anfangs im Vordergrund gestanden;

* Vortrag beim 17. Internationalen Kongreß für Individualpsychologie in Münsterf/Westf. vom 12.-16. Juli 1987. Leicht überarbeitet; in der rhetorischen Fassung wird auf eine abgewogene Darstellung verzichtet. Manche Formulierungen mögen pointiert erscheinen; sie möchten die Diskussion anregen.

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seit 1918, und dann zunehmend bis zur klassischen Ausgestaltung der Lehre vom Gemeinschaftsgefühl (1928) habe sich Adler mehr auf das Gesunde, das Soziale, das Allgemeingültige besonnen. Die Individualpsychologie sei seither erst eine wirklich humane Wertpsychologie. Diese Charakteristik der Theorieentwicklung verdanken wir vor allem Ansbacher (1972 u. 1981).

1. Ausweichen vor den Lebensaufgaben: Feigling!

Der erste Packen, den uns die Adlersche Theoriereform auflädt, ist die Verschärfung der Linie des Rückzugs, der zögernden Attitüde, der Sicherung durch Distanz in der Neurose. Beispielsweise wird 1919 der folgende Satz in den „Nervösen Charakter" eingefügt: „Die Enthebung von den hervorstehenden Forderungen des Lebens, die Hinausschiebung der Lösung einer Lebensfrage oder die Gewinnung mildernder Bedingungen wird sekundäres ideales Ziel" (Adler 1912/1972, S. 54). Diese Einfügung ist charakteristisch für die gesamte Redaktionsarbeit an der zweiten Auflage. Das gilt es festzuhalten: Ein Theoriestück, auf das sich der oft beklagte abschätzige Tonfall mancher Sätze Adlers gründet, wurde erst bei dieser Revision so deutlich verschärft.

Im Vorwort zur 2. Auflage des Nervösen Charakters` heißt es: „Der Ausbau meiner Lehre hat einige Klarstellungen und Ergänzungen im vorliegenden Bande nötig gemacht" (Adler 1912/1972, S. 26). Dieser Satz bezieht sich wohl vor allem auf die Sicherung durch Distanz. Das Wort „Gemeinschaftsgefühl" wird wohl einmal in den Text eingefügt, aber inhaltliche Ergänzungen zum Gemeinschaftsgefühl werden erst in die 3. und 4. Auflage eingetragen.

Für die Theorieentwicklung ist diese Änderung aber deshalb so schmerzhaft, weil damit die verheerende Vereinfachung des Finalitätsbegriffs und der Finalanalyse eingeleitet wird, die sich in der Individualpsychologie breitgemacht hat. Die sekundären Ziele, die nach Prämien in der sozialen Mitwelt trachten, treten in den Mittelpunkt: Der Neurotiker wird zum Feigling. Das Ganze wäre nicht so schlimm, wenn nicht damit der ursprüngliche Sinn der Finalanalyse verdunkelt worden wäre. Der lautete: In allen Ausweichmanövern verbirgt sich 1. die real begründete Furcht vor dem Untergang, vor der tatsächlichen „Minderwertigkeit", 2. verbirgt sich im Rückzug die List des Willens zur Macht. - Die Verschiebung des Gewichts auf das subjektive Gefühl der Minderwertigkeit verstellt den Blick auf den existentiellen Grund des Minderwertigkeitsgefühls, den realen Mangel, die Hinfälligkeit und Bedrohtheit des Menschen. Ein Optimismus, der Angst, Schuld und Sein zum Tode überspringt, ist auf eine Lebenslüge gegründet. Freilich hat Adler die ursprüngliche Sicht auf den Machtwillen und zugleich auf die Not des Patienten nie ganz aufgegeben, aber er hat der zögernden Attitüde übermäßig viel Schimpf angetan; sie bewahrt uns doch auch vor der teuflischen Eile der Aktivisten. Er hat die listige Verweigerung, den unbewußten Streik, den passiven Widerstand verunglimpft, den Machtwillen aber zu veredeln versucht und als moralische Kraft, als Streben nach Vollkommenheit uminterpretiert. Damit hat er der Gefahr des heuchlerischen Optimismus, des moralischen und politischen Pharisäertums, ohne es zu wollen, eine Tür geöffnet.

2. Mangelndes Interesse am Mitmenschen: Egoist!

Das Gemeinschaftsgefühl gilt als eine kosmisch begründete Kraft, eine gemeinmenschliche Anlage, die zu einer Fähigkeit herangebildet werden muß. Das Gemeinschaftsgefühl wird zum Kriterium individueller und kollektiver Gesundheit. Entsprechend diesem neuen Stand der Theorie fügt Adler auch eine Ergänzung in den oben zitierten Satz ein: Es hieß, die Enthebung von den Forderungen des Lebens werde für

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den Patienten „sekundäres ideales Ziel". Dieser Satz wird nun fortgesetzt: das sei ein Ziel, „das auch durch den Egoismus des Patienten, durch das mangelnde Interesse für den anderen erfordert wird" (1912/1972, S. 54). Ich habe diese Ergänzung nicht willkürlich herausgesucht. Fast alle Veränderungen, die Adler 1928 in die 4. Auflage des „Nervösen Charakters" einfügt, haben denselben moralischen Klang: Der Neurotiker ist nicht nur feige und schlecht ausgerüstet, sondern auch und vor allem egoistisch, für das Leben in der Gemeinschaft nicht aufgeschlossen.

Daß es eine unverhältnismäßige Anstrengung erfordern würde, diese von mir überprüfte Behauptung lege artis zu dokumentieren, zeigt, wie dringend wir einer kritischen Werkausgabe bedürfen.

II. Kritik des Begriffs „Gemeinschaftsgefühl"

Diese Kritik versteht sich als ein Aufruf, die analytischen Positionen Adlers vor seiner Wende zu einer harmonisierenden, beschönigenden Individualpsychologie wieder freizulegen. Zum Original-Adler gehört die Streitbarkeit, darum will ich, was ich zu sagen habe, auch in vier streitbare Thesen kleiden:

1. These: Der Begriff „Gemeinschaftsgefühl" ist ungeeignet, das Kriterium der psychischen Gesundheit zu benennen; denn Gemeinschaftsgefühl ist als WertPhänomen ambivalent.

Es ist Adler nicht gelungen, das Wertkriterium, das er dem Gemeinschaftsgefühl beilegen wollte, zu finden. Gemeinschaften unterscheiden sich. Ein Bachchor, eine meditierende Zen-Gemeinschaft, ein Fan-Club des FC-Bayern, schunkelnde Karnevalisten und paradierende Funkenmariechen, eine U-Boot-Mannschaft, eine Heilsarmeegruppe: Ist es das Gemeinschaftsgefühl, was sie unterscheidet? Und können nicht ganz verschiedene Motive die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bestimmen? Die Literatur und das Leben kennen die edle Räuberbraut und den terroristischen Gottesstreiter (vgl. Antoch 1981, Wiegand 1987).

Ich präzisiere meine Kritik: Der Begriff Gemeinschaftsgefühl ist deshalb ungeeignet, weil er ein Phänomen bezeichnet, das auf verschiedenen Ebenen des Zusammenseins in ähnlicher Struktur erscheint. Ob etwas gut ist, dem Ganzen dient, ob ein Mensch psychisch gesund ist, das liegt also weder an dem Gefühl noch an der Gemeinschaft noch an der Kombination beider zum Gemeinschaftsgefühl, sondern der ethische Wert kommt einer Motivation aus einem anderen Wertbereich zu. Adler hat das gesehen. Deswegen war er ja auch immer wieder zu Verschiebungen des Begriffsinhalts genötigt. Es muß echtes Gemeinschaftsgefühl sein, Gemeinschaft sub specie aeternitatis, nicht nur minderwertiges oder gar kriminelles. Der primitiven Gemeinschaft wie dem primitiven Gefühl fehlt etwas, nämlich die Verbundenheit mit einer weiteren, wesenhaft anderen Gemeinschaft, besser: mit tieferen, subtileren Seinsbereichen in mir und in den anderen. Letztlich stehen wir mit solchen Überlegungen mitten in der Metaphysik (Adler 1933/1983, S. 26 f.). Auch damit hat Adler recht, und es zeigt, wie scharfsichtig er sein konnte. Aber ein solcher Hinweis bringt nichts Beruhigendes mit sich, sondern damit fängt das Problem erst an.

Ich stelle klar: Das, was Adler mit dem „Gemeinschaftsgefühl sub specie aeternitatis" gemeint hat, das gibt es; aber es ist mit dem Wort „Gemeinschaftsgefühl" irreführend bezeichnet. Zu klären, was hier phänomenologisch vorliegt, wäre eine Aufgabe individualpsychologischer Forschung, die nicht Adler nachbetet oder ihn apologetisch uminterpretiert. Es ist Zeit, die Sache selbst zu befragen, wie es in seiner Frühzeit Adler getan hat.

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Dann stellen sich zwei Aufgaben: 1. In der Bestimmung dessen, was heilt, was gesund und dem Ganzen dienlich ist, müssen wir die Ansatzpunkte Adlers aufnehmen, aber weit über ihn hinaus fragen und auch die inzwischen fortgeschrittenen philosophischen und ökologischen Gesichtspunkte einbeziehen. 2. müßten wir aber untersuchen, wie das alltägliche Gemeinschaftsgefühl in der Psycho- und Gruppendynamik wirklich wirkt. Dazuwäre meines Erachtens eine Rückbesinnung auf die Theorieansätze Adlers vor der Wende erforderlich.

2. These: Mangelndes Gemeinschaftsgefühl ist nicht der eigentliche Grund der Neurose. Vielmehr kann das Gemeinschaftsgefühl auch die Neurose stiften und zementieren.

Eine der wesentlichen und allseits gepriesenen Definitionen des Gemeinschaftsgefühlslautet: „Mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen" (Adler 1928/1982, S. 224). Nun wird niemand bezweifeln, daß das eine hohe und sehr nützliche Fähigkeit ist und sicher auch die Voraussetzung eines menschenwürdigen Zusammenlebens. Doch die eben skizzierte Wertaporie stellt sich wieder ein: Diese feine Charakterisierung des Gemeinschaftsgefühls als Identifikation und Einfühlung, die auch als Voraussetzung für die Arbeit des Therapeuten gilt, ist ebenso eine exakte Beschreibung der neurotischen Haltung. Als Kinder haben sie es gelernt, als unsere Patienten halten sie noch daran fest: mit den Augen der Eltern zu sehen, mit deren Ohren zu hören, mit dem Herzen von Vater oder Mutter zu fühlen.

Mir steht eine Patientin vor Augen, die in mehreren Krisensituationen ihres Lebens mit Selbstisolation, Depression und Suizidtendenzen reagiert hatte. Da ihr in solchen Belastungen auch sehr eindrückliche Wahrnehmungsverzerrungen widerfuhren, glaubte sie und auch ihr Nervenarzt, sie leide an einer endogenen Psychose. Wenn sie „abrutschte", wie sie es nannte, geriet sie jedoch nicht in den Sog der Depression selbst, sondern, genau betrachtet, erfaßte sie eine lähmende Furcht vor der Depression. Schon diese Erkenntnis brachte ihr genügend Standfestigkeit ihren Gefühlen gegenüber, so daß sie deren Analyse aufnehmen konnte. Die gefürchteten Halluzinationen erwiesen sich als sehr lebendige katathyme Bilder, die fast wie Visionen in das Tagesbewußtsein der Patientin vordrangen. In einer Phase der Therapie erschienen ihr in diesen Visionen Menschen, die sie erwartungsvoll anblickten, schließlich Augen. Es gelang ihr, diesen Augen standzuhalten, sie zu befragen, was sie von ihr wollten, und ihnen ihre eigene Existenz entgegenzuhalten. - Erstmals hatte sie ihre emotionalen Reaktionen mit den eigenen Augen angeschaut und nicht mit den Augen ihrer Mutter gesehen. Diese hatte, aus ihrer eigenen Verrücktheitsangst heraus, die Tochter als „schwierig" und „nicht normal" angesehen. Modelle für „Verrücktheit", nämlich Suizide und psychiatrische Hospitalisierungen, gab es im übrigen in der Familie genug, und bekanntlich entscheidet ja die Psychose der Familienangehörigen in Zweifelsfällen gelegentlich, ob unser Patient eine endogene oder eine neurotische Depression „hat" (Battegay 1977; SchultelTölle 1982, S. 243f.). Ich frage mich, ob hier den Patienten nicht eine Abart des Gemeinschaftsgefühls übergestülpt wird, in Form einer Kollektivhaftung. Bei meiner Patientin jedenfalls war es so.

Selbstverständlich ist das hier als krankmachend dargestellte Gemeinschaftsgefühl nicht das, was Adler „sub specie aeternitatis" gemeint hat; aber es ist Gemeinschaftsgefühl, und wir sollten, meine ich, den Namen für dieses Phänomen reservieren, und nicht mit Adler das „ideale Gemeinschaftsgefühl" als Begriffs-Chamäleon inthronisieren. Das neurotische Gemeinschaftsgefühl ist in der Tat eine Erscheinung der Sicherungstendenz, der Distanzierung von den Lebensaufgaben. Zur Gesundung muß, wie es auch Adler gesehen hat, eine Loslösung von der engen Gemeinschaft und

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eine neue, weitere Identifikation eintreten. Aber wie? Zunächst einmal durch Aggression, durch Verneinung von Ansprüchen der Mitmenschen und durch Zurückweisung der Forderungen des Überichs, das heißt durch Schuldgefühle hindurch. Oft sage ich meinen Patienten und mir selbst: „Schuldgefühle sind der Preis der Freiheit." Von Befreiung soll im folgenden die Rede sein.

3. These: Der Begriff „Gemeinschaftsgefühl" verschleiert die fundamentale Verschiedenheit der beiden Gefühlsklassen:

a) der sekundären, reaktiven Gefühle und

b) der Grundstimmungen oder Befindlichkeiten.

Der Heilungsprozeß ist definiert als Umschwenken vom Überlegenheitsstreben ins Gemeinschaftsgefühl. Man hört vielleicht: Von der Überlegenheit zur Gemeinschaft. Aber es heißt auch: Vom Streben zum Gefühl. Durch die gefühlsbetonten Therapieformen sind wir mit Recht ermahnt worden, alle Gefühle des Patienten anzunehmen und uns „bedingungslos auf die Lage des Patienten einzulassen" (Heisterkamp 1983, S. 101). Dem stimme ich zu. Aber es gibt sekundäre, d.h. nicht ursprüngliche Gefühle. Sicher sind sie ernst zu nehmen. Wut, Enttäuschung, Neid, alle Ängste, die sich gegen die Wiederholung vergangenen Schmerzes kehren, können und sollen wiederbelebt werden. Das trägt schon sehr zur Therapie dieser Gefühle bei. Aber eine Analyse ist dennoch unentbehrlich; denn die genannten Ichgefühle sind reaktiv. Sie sind aus dem Streben geboren, liebenswert, anerkannt, erfolgreich, leidfrei zu sein. Sie sind Antworten des Ichs auf Vereitelung oder Erfüllung des Strebens. In der Tat stehen die sekundären Gefühle in der gesamten neuzeitlichen Gefühlskultur im Vordergrund (s.a. Wiegand 1986). Das macht zum Beispiel das Neurotische an Schillers Dramenfiguren aus. Und die Exkremente dieser Kultur, die Konsumwerbung und der Schlager, leben überhaupt nur von sekundären Gefühlen, vielleicht auch manche Hier-und-Jetzt-Psychogruppe.

Handelt es sich, so haben wir uns zu fragen, um Wut oder Zorn, um Gekränktsein oder um Schmerz, um existentielle Grundangst oder um die Angst vor der Angst? Die eigentliche Angst als Grundbefindlichkeit des Menschen wollen wir ja wohl nicht „wegtherapieren". „Faktisch bleibt denn auch die Stimmung der Unheimlichkeit meist existenziell unverstanden. Eigentliche` Angst ist überdies bei der Vorherrschaft des Verfallens und der Öffentlichkeit selten" (Heidegger 1927, S. 190). Die existentielle Angst kann man nicht wiederbeleben, sondern sie kann in einer Therapie allererst zum Leben kommen, wenn der Therapeut für diese Wahrnehmung überhaupt offen ist.

Interessant ist, daß Mentzos (1984, S. 37) am Ende seines lehrreichen Angstkapitels auch die Frage nach der existentiellen Angst aufwirft, sie aber klar aus dem Rahmen der Psychotherapie ausschließt.

Das primäre Gefühl ist Gestimmtsein. In ihm finden wir uns vor. Im nachhinein nehmen wir es als unsere Befindlichkeit wahr. Hierher sind zu zählen: Ungesichertheit, Niedergeschlagenheit, Angst, Leere, Langeweile; aber auch Freude, Heiterkeit, Humor, Liebe und das sogenannte „echte Gemeinschaftsgefühl". Jedoch die Enttäuschung über das Ausbleiben einer Wunscherfüllung unterscheidet sich grundsätzlich von den Stimmungen der Trauer und Niedergeschlagenheit angesichts eines Verlustes oder angesichts der Vergänglichkeit des Freudvollen und Glückhaften. „Freude", eigentlich Befriedigung über einen erfüllten Wunsch, Genugtuung über eine Anerkennung, Euphorie der Verliebten sind etwas wesenhaft anderes als die Freude, in der ich mich finde, wenn ich sage: „Mir geht's so gut, ich bin so heiter, ich weiß nicht, warum."

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Die Therapie hat auch, wenn nicht vor allem, das „Ziel", diesen Erfahrungen die Tür zu öffnen. Die Finalanalyse ist hierzu eine unentbehrliche Hilfe; denn das neurotische Streben verhaftet den Menschen an ein fiktives Persönlichkeits-Ziel. In der Analyse soll also eine Strebens-Bindung „gelöst" werden. Das griechische Wort „analyo" heißt „einen Knoten lösen", „losbinden", von daher „die Anker lichten, aufbrechen". Das primäre Gefühl ist eine Erfahrung der Offenheit und der Freiheit, eines Angesprochen- und Bezogenseins. Diese Erfahrung entspringt nicht dem Streben oder der Sorge, sondern tut sich in der „Gelassenheit" auf.

Ich spreche von diesem Unterschied hier nicht um der Differenzierung der Gefühle willen, sondern mit Blick auf das „Gemeinschaftsgefühl" als Kriterium der Gesundheit. Denn in diese Dimension der wahr-nehmenden Gelassenheit ins Mitsein gehört das hinein, was Adler das ideale Gemeinschaftsgefühl nennt. Doch, wie gezeigt, handelt es sich dabei nicht um eine moralische oder psychologische Kategorie. Vielleicht hat Adler das geahnt.

Wenn er meint, eines Tages werde uns das kosmische Gemeinschaftsgefühl so selbstverständlich sein wie das Atmen, dann öffnet er sich für eine ontologische Betrachtungsweise. Es sei auch daran erinnert, mit welchem Nachdruck er uns davor warnt, aus dem Wissen um das Gemeinschaftsgefühl eine Überlegenheitsillusion abzuleiten (1933/1973, S. 82).

Aber meistens spricht er vom Gemeinschaftsgefühl wie ein Tugendlehrer, der meint, daß man es anerziehen kann wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnungssinn und Gehorsam. Dann aber hätten wir entweder Dressur oder Gemeinschaftsstreben zum Kriterium der Gesundheit gemacht, und aus wäre es mit dem „wahren Gefühl".

4. These: „Gemeinschaftsgefühl" als Kriterium der Gesundheit ist ein Rückschritt in der Neurosenlehre Adlers.

Meine Thesen propagieren nicht eine Abweichung von Adlers Grundauffassung. Vielmehr wollen sie an die Grundauffassung Adlers als Basis der Diskussion über Krankheit und Gesundheit erinnern. Erfand das Gemeinschaftsgefühl, das erzunächst als korrigierende, selbst auch fiktive, dem Mißbrauch ausgelieferte Kraft ansah. Aber das war ihm nicht genug. Ersuchte das bleibend „Gute" (vgl. Adler 1933/1983b, S. 31). Bedauerlicherweise hat er das Gemeinschaftsgefühl als Ei des Kolumbus genommen. Er hat ihm auf den Kopf geschlagen; aber damit war noch keine moralische oder metaphysische Heilkraft erfunden.

Leider kann ich nur sehr pauschal die Verluste zusammenstellen, mit denen die Veredelung der Lehre Adlers erkauft wurde:

a) Verschleierung der kritischen Erkenntnislehre

Verschleiert wird die kritische Analyse der wissenschaftlichen Erkenntnis, deren „regressive" Vereinfachungstendenz (Adler 1912), deren fiktiver Charakter und deren machtförmige Impulse. Das sind sämtlich Gedanken, die uns heute in der ökologischen und phänomenologischen Wissenschaftskritik wieder begegnen (Padrutt 1984). Doch die radikale Erkenntniskritik des „Nervösen Charakters", die ursprünglich von Nietzsche stammt, wird von Adler selbst durch seinen Hinweis auf Vaihinger kastriert und kaschiert und von seinen Interpreten mit einem Aufguß aus Vaihingers „idealistischem Positivismus" vernebelt. Ansbacher (1972, S. 90 u. 100) glaubt, daß Adler die Fiktionenlehre Nietzsches auf dem Umweg über Vaihinger kennengelernt habe).

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b) Abschwächung der Lehre vom Primat des Willens zur Macht: Kluft zwischen der kollektiven und der individuellen Neurose

Abgeschwächt wird die Lehre vom „unbedingten Primat des Willens zur Macht" (Adler 1912/1972, S. 77). Verschärft wird dadurch die Kluft zwischen der kollektiven und der individuellen Neurose. Damit wird ein zukunftweisendes, die Individualpsychologie des frühen Adler vor allen anderen Schulen auszeichnendes Spezifikum verschenkt: die soziale Komponente im radikalen, d.h. im sozialkritischen Sinne.

1912 hieß es noch: „Es finden sich beiden Nervösen keine vollkommen neuen Charakterzüge, kein einziger Zug, der nicht auch beim Normalen nachzuweisen wäre." (Adler 1912/1972, S. 35f.) Charakteristisch für die „ausgereifte Vorstellung vom Gemeinschaftsgefühl" (Ansbacher 1981, S.182) ist folgende Variante (zit. ebd.). 1914 heißt es: „Was aber die Zielsetzung` und den ihr angepaßten Lebensplan anbelangt, so finden wir keinerlei grundlegende Differenzen" (zwischen Gesunden und psychisch Kranken). In der Spätphase lautet es anders; das Zitat wird 1932 ergänzt: „(keine Differenzen) außer der einen, freilich maßgebenden, daß das konkrete Ziel des Neurotikers immer auf der unnützlichen Seite des Lebens liegt." (Adler 1974, S. 34) Wenn uns unsere Ausbildungskandidaten Jahr für Jahr sagen, daß sie sich durch Adlers harschen Ton und die grobschlächtigen Falldarstellungen beschuldigt und abgeschreckt fühlen, ist das wohl nicht nur auf deren mangelndes Gemeinschaftsgefühl zurückzuführen, viel eher darauf, daß sie selten den frühen Adler gelesen haben, sondern nur seine späteren Falldarstellungen.

Die Gefahr steht im Raum: Der problembeladene Einzelne ist das Schwarze Schaf, der Sündenbock; die auf der sonnigen Gemeinschaftsseite bringen ihre Schäflein mit individualpsychologischem Optimismus ins Trockene. Die hier zutreffende Variation eines Buchtitels von Neil Postman (1985) müßte heißen: „Sie optimieren uns zu Tode". Wo ist die Rede von den Machtinteressen derer, die den Kleinen sagen, was gut für sie sein soll? „Ich will nur dein Bestes", sagte der gute Adlerianer zum armen Neurotiker. „Das kriegst du aber nicht", sollte dessen schlaue Antwort bleiben.

c) Verbiegung der Fiktions- und Neurosenlehre

Verbogen wird auch die ursprüngliche Neurosenlehre. Adler sah die Einheit der Persönlichkeit ursprünglich als Ergebnis einer Fiktionsbildung an. Diese ist ein allgemeinmenschliches Phänomen. Das Kind, verstärkt der neurotische Mensch, nimmt die Leitlinien seines Lebens, wie Adler hervorhebt (1912/1972, S. 57 u. 67), aus der näheren und weiteren Umgebung. Es sind die Fiktionen von Macht, Stärke, Erfolg, Güte und gar Heiligkeit seiner Familie und Kultur, die der Neurotiker ernst nimmt. Noch 1923 heißt es: „In einer bestimmten Hinsicht sind alle Neurotiker Opfer von Irrtümern der Kultur" (1923/1982, S. 46). Während der „Normalmensch" für sie bloß Lippenbekenntnisse übrig hat, glaubt der Neurotiker an die goldenen Albumsprüchein seiner Not sogar mit religiöser Inbrunst, ja er läßt sich für sie ans Kreuz seines neurotischen Leidens schlagen (nach Adler 1912/1972, S. 74). Der Neurotiker, besonders der sogenannte Borderline-Patient, nimmt die Fiktionen der Elternliebe, des Leistungsstrebens, der Existenzsicherung „wörtlich", er dogmatisiert sie, weil er davon keine Distanz gewinnen kann. Er leidet an seinem korrupten Gemeinschaftsstreben. Er muß erfahren, daß all sein Streben ihn nicht zu der Tugendseligkeit führt, die ihm von der auf Fiktionen aufgebauten Pädagogik versprochen wird.

d) Abgleiten von der Analyse zur Pädagogik

Nicht von ungefähr ist Adler in den Verdacht gekommen, kein Psychoanalytiker, sondern ein Pädagoge zu sein. In schärfster Erkenntnis der Not unserer Zeit hat er das „Gemeinschaftsgefühl" der moralischen und pädagogischen Anstrengung anempfoh-

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len. Damit hat er es dem Streben überantwortet. Das Streben ist Könnenwollen. Das ist beim Autofahrenlemen, Computerprogrammieren, vielleicht sogar bei den Anstrengungen des Mannschaftsgeistes wirksam. In personalen, schöpferischen und auch ethischen Wertbereichen ist das Streben (als Könnenwollen) aber immer eine Äußerung des Machtwillens. Dieses Fundierungsgesetz der Wertintention hat Max Scheler freigelegt: Ich kann nur die zugrundeliegenden Güter- und Vitalwerte direkt wollen. Zum Beispiel: Die Annehmlichkeiten des Zusammenseins, der Austausch von Lust, von Gefühlen und Gedanken, die Ausführung eines Bildentwurfs oder einer Sprachgestalt lassen sich erstreben. Aber Liebe, Freundschaft, Künstlertum kann man nicht direkt wollen, sondern sie ergeben sich von einer Wertqualität her, die der Intention nicht verfügbar ist. Sie werden einer Handlung quasi von außen zugesprochen. Scheler sagt: Sie reiten auf dem Rücken des (Intentions-) Aktes (Scheler 1954, S. 49). Banal gesprochen: Man kann wohl der Oma den Koffer in den Zug heben wollen, aber damit einen Akt der Nächstenliebe üben zu wollen, ist lächerlich. In diesem Sinne behaupte ich, daß Adler in die Gefahr gekommen ist, das „Gemeinschaftsgefühl" gegen seinen Willen an das Machtstreben zu verraten.

III. Das schielende Adlerauge: Signal einer existentiellen und politischen Krise Adlers?

Nach der Wende tut Adler so, als ob nur der Neurotiker seiner privaten Logik folge und damit abirre vom Pfad der allgemeinen Tugend. Sollte er wirklich seine Kritik am kollektiven Machtwahn vergessen haben, oder konnte er es sich vielleicht nicht mehr leisten, sie zu äußern, als er in die pädagogischen Institutionen des Wiener Reformkurses eingespannt war, und mußte er vielleicht erst recht seine Kritik an der kapitalistischen Neurose in seinem Emigrationsland verschweigen? Wo haben denn die moderne Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik ihre „Lebensaufgaben" erfüllt, ohne für eine Menge unnützen Tand weltweite Armut, Korruption, Gewalt und Naturzerstörung in Kauf zu nehmen? Freilich ist das alles für uns und von uns normalen Neurotikern geschaffen.

Ein Patient entwickelte seit der Jugendzeit eine sehr belastende Angstsymptomatik. Er muß zittern, wenn er kritischen Blicken ausgesetzt sein könnte. Er berichtet, daß er als Kind schielte, ohne daß man eine organische Ursache festgestellt hätte. Die Analyse ergibt, daß er dem angsterfüllten oder fordernden Blick seiner Mutter nicht standhalten konnte. Ihm fällt ein: Ich konnte nicht hinsehen. Der Sinn der Angstsymptomatik kehrt sich um: Ursprünglich ist nicht das Gesehenwerden erschreckend, sondern das Hinsehen. Es ist auch gefährlich, denn er fürchtet, verstoßen zu werden, wenn er etwas sieht. Was darf er denn nicht wahrhaben? Daß die ganze Fürsorglichkeit, die ihn umgibt, Theater ist und der Angstbeschwichtigung der Mutter dient. Er zittert vor dem Schreckgespenst hinter der freundlichen Maske der Mutter. Er könnte es sehen, aber sein Blick gleitet weg. Er schielt: Er sieht nebenhinaus und glaubt weiterhin an seine Schwäche und an die Güte und Hilfsbereitschaft seiner freundlichen Umgebung.

Das Schreckgespenst hinter der freundlichen Maske

Auch Alfred Adler ist dem begegnet. Es ist kein Zufall, daß er gerade am Ende des Ersten Weltkriegs zur schärfsten Kritik des wölfischen Wesens aller bisherigen Politik fand. In zwei Aufsätzen prangert er an, daß die abendländische Welt die Wahrheit immer nur zum Lügen benutzt habe (Adler 1918/1974, S. 183 u. 1919/1982, S. 24).

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Gleichzeitig fand er im Gemeinschaftsgefühl den Weg, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Aber wie geht er vor? Er analysiert den Machtwillen mit äußerster Präzision und Radikalität, er deckt ihn auf in Politik, Religion, in geschlechtlicher Liebe und in der Elternliebe. Sogar in Demut, Entsagung und Nächstenliebe findet er seine Spuren. Und wo findet sich die Analyse der Gegenkraft, des Gemeinschaftsgefühls? Es gibt Aufrufe und Beteuerungen: „Wer die Gemeinschaft will, muß dem Streben nach Macht entsagen!" (Adler 1919/1982, S. 23) Unser oberstes Ziel sei: „Pflege und Verstärkung der Gemeinschaftsgefühle" (ebda. S. 28). Eine gründliche Analyse des Gemeinschaftsgefühls als der korrigierenden oder kosmischen Kraft findet sich im ganzen Werk Adlers nicht, wohl aber eine Analyse des Machtstrebens: Das ist nun kein Vorwurf gegenAdler. Fürdiese weitergehende Aufgabe war und ist die Zeit noch nicht reif. Bedauerlich ist aber, daß er von dem Schreckensbild, das er sah, wegschielen mußte, noch bevor er sich und uns bis zum letzten damit konfrontiert hatte.

In seinem Aufsatz von 1918 erinnert Adler an eine Kindheitserinnerung Dostojewskis. Der kleine Fjodor entfernte sich einst querfeldein etwas zu weit vom Gute seines Vaters. Erschrocken blieb er stehen, da er den Ruf vernommen hatte: „Der Wolf kommt!" Rasch eilte er zurück zu einem Bauern, der in der Nähe ackerte. Adler kommentiert, man habe hierin die Hinwendung Dostojewskis zu Religion und Bauerntum symbolisiert sehen wollen. „Es ist aber vielmehr der Wolf, der hier in Frage kommt, der Wolf, der ihn zu den Menschen zurücktreibt" (1918/1974, S. 286f.).

Auch Adler hat den Wolf gekannt: Er ist ihm selbst begegnet; aber er hat ihm nicht standgehalten. Wer will es ihm verdenken! Es war das Heulen des Wolfes, das ihn zur Stimme des Gemeinschaftsgefühls zurücktrieb. Er hat Halt gemacht, als er mit der kollektiven Machtneurose allzu heftig konfrontiert wurde. Zu fragen ist, ob Adlerianer nicht manchmal den Stiefel umkehren und das Heil in einer machtförmigen Gemeinschaftsneurose suchen. Adler hat in den Abgrund des Minderwertigkeitsgefühls, der Ohnmachts- und Nichtigkeitserfahrung geschaut. Und er hat erkannt, daß das kollektive und individuelle Machtstreben ein scheiternder Versuch der Sicherung gegen die Grunderfahrung des Scheiterns ist. Er mußte erleben, daß der bolschewistische Machtrausch seinen sozialistischen Gerechtigkeits- und Fortschrittsglauben kompromittierte. Er geriet selbst so sehr in die Komplizenschaft der Mordmaschine Krieg, daß ihn der eigene Traum als Mörder beschuldigte. Und nun fängt das Schielen an. Er verdreht seine Traumtheorie: Aus dem eigenen Traum, der ihn unerträglich beschuldigt, leitet er eine Uminterpretation der Traumtheorie ab. Nicht wer den feigen Soldaten zum Kriegsdienst verpflichtet, das warAdler selbst gewesen, gilt ihm als der „schuldig-unschuldige" (potentielle) Mörder, sondern der Traum will angeblich die Logik des Ganzen morden (siehe dazu Hannen 1986). Sollte Adler nicht daran gelitten haben, daß er statt der Privatlogik des armen Feiglings die Interessenlogik der KriegsSachzwänge schützen mußte? Auch sie ist ein „ehernes Gesetz", das zwar kollektiv akzeptiert, doch nicht weniger menschenfeindlich ist als andere kriminelle Logiken! Die Suche nach dem Gemeinschaftsgefühl ist seither scheelsichtig. Das eine Auge schielt auf den Pragmatismus der kleinen Schritte, auf die Banalität des common sense mit seiner übellaunigen Zeigefingermoral. Das andere Auge blickt auf zu einem alltagsfernen, zeitlos-endzeitlichen Idealismus. Aber der Wolf läßt ihm und uns keine Ruhe. Er heult ihm im Traum durchs Gewissen, und er wirft uns immer wieder die unverdauten Brocken der Individualpsychologie vor die Füße, einer Theorie vor der Wende, die sich anfangs noch „freie Psychoanalyse" nannte.

Die Begegnung mit dem Wesen des Wolfes hätteAdlerin die Einsamkeit geführt, hätte ihn vielleicht vors Kriegsgericht bringen können, hätte ihm gar die Teilhabe an

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der Aufbaupädagogik der Nachkriegszeit verwehrt, nachdem ihm schon die Bahn des akademischen Forschers und Lehrers verschlossen worden war.

Adler wollte kein Einsamer sein.

Literatur

Adler, A.: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individual-PsychologieundPsychotherapie. Bergmann, Wiesbaden 1912

- Dostojewski (1918). In: Adler 1974

- Bolschewismus und Seelenkunde (1919). In: Adler 1974

- Fortschritte der Individualpsychologie (1923). In: Adler 1982

- Kurze Bemerkungen über Vernunft, Intelligenz und Schwachsinn (1928). In: Adler 1982 - ÜberdenUrsprungdesStrebensnachGemeinschaftsgefühl (1933), In: Adler 1983

- Der Sinn des Lebens (1933b). (Neudruck hrsg. v. Metzger, W.), Fischer TB Nr. 6179, Frankfurt/M. 1973

- Über den nervösen Charakter. (Nach der 4. Aufl. von 1928, hrsg. v. Metzger, W.) Fischer TB Nr. 6174, Frankfurt/M. 1972

- Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Vorträge. Zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. (Nach der 4. Aufl. von 1930, hrsg. v. Metzger, W.) Fischer TB Nr. 6236, Frankfurt/M. 1974

- Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze. 1. Bd.: 1919-1929. Hrsg. v. Ansbacher, H. L. und Antoch, R. F. Fischer TB Nr. 6746, Frankfurt/M. 1982

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- Ansbacher, H. L.lAnsbacher, R. R.: Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. Reinhardt, München/Basel 1972

- Die Entwicklung des Begriffs „Gemeinschaftsgefühl" bei Adler. Zeitschrift für Individualpsychologie, 6, 1981, 177-194

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Karl Heinz Witte

Psychoanalytiker DGIP

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